Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Kleines Bauteil, große Wirkung
Ein Mangel an Computerchips legt die Automobilproduktion teilweise lahm und sorgt für längere Lieferfristen
RAVENSBURG - Eigentlich sollte die Automobilbranche wieder zum Zugpferd der für dieses Jahr erwarteten Konjunkturerholung werden. Doch nun bremsen ausgerechnet winzige Halbleiter die Produktion bei Herstellern und Zulieferern aus. Ein Mangel an Computerchips sorgt dafür, dass die Bänder in etlichen deutschen Werken stillstehen.
Im Daimler-Werk Rastatt mit seinen 6500 Beschäftigten, wo Kompaktwagen wie die A-Klasse gebaut werden, ruht seit vergangenem Freitag die Produktion. Der Standort Bremen (C-Klasse, GLC) wird voraussichtlich ab dem 1. Februar für eine Woche in Kurzarbeit gehen. VW hatte bereits im Dezember berichtet, dass man die Produktion im ersten Quartal um bis zu 100 000 Fahrzeuge kürzen müsse, weil man Halbleiterprodukte nicht in ausreichender Menge zur Verfügung habe. Bis zum 18. Januar wurde zunächst im Werk Wolfsburg (Golf) die Kurzarbeit verlängert. Von da an sind Produktionspausen an einzelnen Tagen in Wolfsburg und Emden (Passat) geplant. Und Audi hat annähernd 10 000 Mitarbeiter in Ingolstadt und Neckarsulm zunächst bis Monatsende in Kurzarbeit geschickt, weil Chips für die elektronische Steuerung fehlen.
Bei den Zulieferern bestätigten Continental und Bosch, von Lieferengpässen bei Halbleitern betroffen zu sein. Der Licht- und Elektronikspezialist Hella produziert in einzelnen Werken nur noch im „Stoppand-go-Modus“. Und der Mechatronik-Spezialist Marquardt (Landkreis Tuttlingen) berichtet, dass „bei einigen Produkten die Produktion wegen fehlender Materialien ins Stocken gerät“.
Wie dramatisch die Situation ist ließ VW-Vertriebsvorstand Klaus Zellmer im „Handelsblatt“jüngst durchblicken: Das Unternehmen müsse in den kommenden Monaten „um jedes Auto kämpfen“und niemand könne mit absoluter Sicherheit sagen, wann sich die Lage wieder normalisieren werde.
Nach Einschätzung des auf die Automotive-Branche spezialisierten Analysehauses LMC Automotive könnte die weltweite Produktion wegen des Chipmangels in diesem Jahr um bis zu 2,2 Millionen Fahrzeuge niedriger ausfallen als bisher erwartet. Ursprünglich war der Branche eine Produktion von 87,6 Millionen Fahrzeugen zugetraut worden, nachdem die Corona-Krise im vergangenen Jahr zu einem Einbruch um 16 Prozent auf 74,7 Millionen Fahrzeugen geführt hatte.
„Da die Chipproduktion je nach Komplexitätsgrad des Bauteils einen Vorlauf von drei bis neun Monaten hat, dürfte das Risiko von Produktionsunterbrechungen noch bis in den Sommer reichen“, prognostiziert Frank Biller, Automobilanalyst bei der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW). Biller geht davon aus, dass Endkunden in den kommenden Monaten vor allem bei Neufahrzeugen der Kompaktklasse längere Lieferzeiten in Kauf nehmen müssen, da die Hersteller die Produktion dieser margenschwächeren Modelle zugunsten der zurzeit sehr erfolgreichen Hybrid- und Elektrofahrzeuge umschichten werden.
Die Gründe für den Mangel an den wichtigen Komponenten sind vielfältig und zum Teil hausgemacht. Mikrochips sind heute aus modernen Fahrzeugen nicht mehr wegzudenken. In den Autos steuern die Halbleiter Klimaanlagen, kontrollieren den Reifendruck, verschieben Sitze im Innenraum oder sorgen bei Unfällen dafür, dass sich der Airbag auslöst. Mit dem steigenden Grad der Digitalisierung und Vernetzung von Autos steigt die Nachfrage nach Halbleitern seitens der Autobranche kontinuierlich. Dazu kommt die deutlich gestiegene Produktion von Elektro- und Hybridfahrzeugen, die ebenfalls den Halbleiterbedarf erhöhen.
Problematisch für die ausreichende Belieferung der Autoindustrie mit Chips hat sich während der CoronaPandemie der Bereich der Konsumelektronik entpuppt. Von Smartphones über PC und Spielekonsolen: Hersteller wie Samsung, Apple, HP oder Sony haben große Teile der ohnehin schon engen Halbleiterkapazitäten auf sich gezogen. Aktuellen Zahlen des Beratungsunternehmens Gartner zufolge wurden 2020 weltweit mit rund 275 Millionen etwa fünf Prozent mehr Desktop-PCs, Notebooks und Tabletcomputer ausgeliefert als im Jahr zuvor – einen derartig großen Anstieg gab es zuletzt 2010.
Doch das alles ist eben nur die halbe Wahrheit. „Manche Kunden haben einfach zu spät bestellt. Daher kommen wir jetzt in einigen Bereichen mit der Lieferung nicht hinterher“, heißt es beim niederländischen Chipproduzenten NXP. Bereits im Herbst hätten die Autobauer die Vorbereitungen treffen müssen, damit es jetzt nicht zu Engpässen kommt. Das sei nicht geschehen und deshalb wurden Produktionskapazitäten an andere Branchen vergeben. Offensichtlich haben die Automobilhersteller die Erholung der Nachfrage im Schlussquartal 2020, die von China und dem großen Erfolg von Elektrofahrzeugen
angetrieben wurde, falsch eingeschätzt.
Die Chiphersteller dürften über die Situation nicht sonderlich traurig sein, sind die strategischen Einkaufsabteilungen der Automobilkonzerne doch als Kostendrücker berühmt-berüchtigt. „Das Problem ist, dass wir in der Kette hinter Konzernen wie Apple oder HP kommen“, zitierte die „Financial Times“einen Automanager. „Die Autobranche zahlt nicht so viel für ihre Halbleiter.“
Infineon, nach eigener Aussage der weltweit führende Hersteller für Halbleiter, die in der Automobilindustrie verbaut werden, macht für die aktuelle Situation vor allem den Hochlauf der Elektromobilität verantwortlich. „Langfristig haben sich die Wachstumserwartungen im Automobilsektor nicht wesentlich verändert – die Elektromobilität bleibt einer der Hauptwachstumstreiber. Entsprechend passen wir unsere globalen Fertigungskapazitäten an“, sagt eine Sprecherin des Dax-Konzerns der „Schwäbischen Zeitung“.
Für LBBW-Analyst Biller sind nun die Einkaufsabteilungen der Automobilhersteller und -zulieferer gefordert, den Mangel an Chips in den kommenden Monaten zusammen mit den Lieferanten bestmöglich zu steuern. Gravierende Auswirkungen auf die Gewinne der Unternehmen erwartet Biller nicht.
Doch so optimistisch ist nicht jeder. Vor allem bei Zulieferern dürfte die Chipflaute auf die Ergebnissituation durchschlagen. Zum einen wegen höherer Preise für Halbleiter. Ein Sprecher von Marquardt bestätigt, „dass die sehr aufwändige Beschaffung der Komponenten teilweise zu Sonderfrachten und erhöhten Kosten“führt. Das Unternehmen hat wegen der angespannten Versorgungssituation daher eigens ein Team gebildet, das sich täglich eng mit den globalen Lieferanten, den Kunden und den Produktionsstandorten abstimmt. So konnte eine Unterbrechung bei der Belieferung der Kunden bislang vermieden werden.
Zum anderen dürften Zulieferer, die wegen der Chipflaute ihren Lieferverpflichtungen nicht nachkommen können, an den Kosten für Produktionsausfälle bei den Automobilherstellern beteiligt werden.
Und selbst die Zulieferer, bei denen der Chipmangel gar keine Rolle spielt, kann es treffen, wenn bei der Kundschaft der Automobilhersteller die Bänder still stehen und deshalb auch keine Getriebe oder Lenkungen benötigt werden.