Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Neue Debatte um Helmpflicht für Radler
Warum der Verkehrsgerichtstags-Präsident eine gesetzliche Regelung vorerst ablehnt
GOSLAR (dpa) - Ein vierjähriges Mädchen übt unter Aufsicht seiner Eltern Fahrradfahren. Es verliert das Gleichgewicht, fällt hin, sein Kopf schlägt auf der Bordsteinkante auf. Das Mädchen stirbt. Diese traurige Geschichte ereignete sich vor mehr als 30 Jahren in einem Städtchen im Ruhrgebiet, Fahrradhelme gab es da nicht. Heute weiß man: Helme retten Leben. Von den Sechs- bis Zehnjährigen tragen 72 Prozent Helm – von den Erwachsenen schützten sich 2019 indes nur rund 20 Prozent. Brauchen wir eine Helmpflicht?
Nein, sagt Ansgar Staudinger, der Präsident des Deutschen Verkehrsgerichtstages in Goslar. Der Professor für Rechtswissenschaften ist derzeit noch gegen eine gesetzliche Verankerung in der Straßenverkehrsordnung – um dem Trend zum Radfahren nicht entgegenzuwirken, wie er sagt.
„Wir erlauben jedem, sich selbst zu gefährden“, sagt Staudinger vor Beginn des Verkehrsgerichtstages in Goslar am gestrigen Donnerstag. Dies ergebe sich aus der im Grundgesetz verankerten freien Entfaltung der Persönlichkeit. Es bräuchte triftige Gründe, damit der Staat da eingreifen dürfte. Anders in Australien: Dort schreibt der Staat den Menschen vor, sich zu schützen. Wer ohne Helm auf dem Rad erwischt wird, muss mit mehreren Hundert Dollar Strafe rechnen.
In Deutschland müsste ein Eingriff in das Persönlichkeitsrecht verhältnismäßig sein, sagt der Jurist Staudinger. Es gebe immer noch mildere Mittel als eine bußgeldbelegte Fahrrad-Helmpflicht – „zum Beispiel Infokampagnen von Verbänden und wohldurchdachte Werbeaktionen des Staates“. Die Kampagne des Bundesverkehrsministeriums, in der halb nackte Models im Bett einen Fahrradhelm trugen, sei indes ein „Rohrkrepierer“gewesen, findet Staudinger. „Man hat ja auch geschafft, dass auf Skipisten keiner einen Helm uncool findet.“
Dass der deutsche Staat auch zum Eigenschutz verdonnern kann, zeigt die Anschnallpflicht im Auto. Die wurde 1976 auf Vordersitzen zum Gesetz. Allerdings ist die Zahl der Fahrradtoten weit niedriger als die der Opfer von Autounfällen: 400 Radunfälle pro Jahr gehen tödlich aus.
Gerichte könnten die Menschen auch ohne gesetzliche Pflicht zum Tragen eines Helms bewegen, ist Staudinger überzeugt. Wie das gehen soll? Indem Radfahrer nach einem Unfall vor Gericht Mitschuld bekommen. So könnte das Gericht etwa einem 70-Jährigen, der mit seinem EBike von einem Auto angefahren wird und sich am Kopf verletzt, sagen: „Du hättest mit Helm fahren können.“In der Folge könnte der Radfahrer nicht 100 Prozent Schadenersatz für seine Verletzungen geltend machen, sondern weniger. Bei der Bewertung des Mitverschuldens sollte das Helmtragen berücksichtigt werden, fordert Staudinger. Das wäre ein Lerneffekt für die Menschen.