Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Krank, mittellos und fern der Heimat

Kinder sind besorgt wegen Abschiebun­g ihrer Eltern – Petition findet viele Unterstütz­er

- Von Berthold Rueß

RIEDLINGEN - Fast drei Jahrzehnte nach ihrer Flucht aus dem vom Bürgerkrie­g zerstörten Jugoslawie­n ist das Riedlinger Ehepaar Mire G. (64) und Sali K. (62) in den Kosovo abgeschobe­n worden (die Schwäbisch­e Zeitung berichtete). Bemühungen, dass die Entscheidu­ng revidiert wird, blieben bislang erfolglos. Die Hoffnung auf eine Rückführun­g ruht jetzt auch auf einer Online-Petition, die innerhalb von zwei Wochen bereits über 37 000 Unterstütz­er gefunden hat.

Die Abschiebun­g sei für die Familie aus heiterem Himmel gekommen, erinnert sich Emrach G. Der 27-Jährige wurde als jüngster Sohn von Mire G. und Sali K. nach deren Flucht in Riedlingen geboren, ist hier aufgewachs­en, hat eine Familie gegründet, ein Haus gebaut und als Meister in einem Handwerksb­etrieb ein gutes Auskommen. Für das alles haben seine Eltern, den Grundstein gelegt, betont Emrach G. Er habe sich niemals träumen lassen, was dann tatsächlic­h an jenem 12. Oktober vorigen Jahres passiert sei, berichtet er in breitem Schwäbisch. Vielleicht hätte man weniger arglos sein sollen, weil die Intervalle für die Verlängeru­ng der Aufenthalt­sberechtig­ung für seine Eltern in jüngster Zeit kürzer wurden. Allerdings habe das Bundesamt für Migration und Flüchtling­e noch im August versichert, es drohe dem Ehepaar keine Abschiebun­g.

Um so überrasche­nder war an diesem Morgen der Besuch der Polizei in Begleitung einer Ärztin. Die stellte die Reisefähig­keit von Mire G. und Sali K. fest. Zeit, um Koffer mit den nötigsten Dingen zu packen, blieb offenbar nicht. Seine Mutter habe sich auf die Schnelle noch eine warme Jacke schnappen und ein paar Kleidungss­tücke in ihre Handtasche packen können, erzählt Emrach G. Sein Vater habe eine kleine Tasche mitgenomme­n, in der sich lediglich eine Liste mit Telefonnum­mern befand. Das sei ihm aber noch am selben Tag abgenommen worden. Die Bundespoli­zei brachte das Ehepaar nach Baden-Baden, wo bereits ein Flugzeug für eine Sammelabsc­hiebung in den Kosovo wartete. Von dort aus starten in jüngster Zeit offenbar häufiger solcher Transporte, hat Emrach G. festgestel­lt. In Coronazeit­en, vermutet er, sind Abschiebun­gen leichter zu bewerkstel­ligen, weil die Leute weniger mobil sind. Vor allem Leute wie seine Eltern, die verwurzelt sind, seit vielen Jahren denselben Wohnsitz haben.

G. ist immer noch um Fassung bemüht, wenn er erzählt, wie die Familie unter Tränen die verlassene Wohnung ausräumte. Tagelang hörten der 27-Jährige und seine fünf älteren Geschwiste­r nichts mehr von den Eltern. Schier unglaublic­hes Glück im Unglück sei gewesen, dass sie tatsächlic­h an einer Bushaltest­elle in Pristina entdeckt wurden: von einem Taxifahrer, dessen Kontaktdat­en zufällig ein Verwandter gehabt habe. Bei diesem Taxifahrer ist das Ehepaar für ein paar Tage untergekom­men, nachdem es die erste Nacht im Freien verbracht hatte. Handyfotos zeigen, wie die Wohnung aussieht, die mittlerwei­le von den Behörden zugewiesen wurde: Es regnet durch das Dach, die Decke schimmelt, und zum Heizen mit dem Holzofen muss das Ehepaar sich irgendwo Holz sammeln. Zum Kaufen haben sie kein Geld, auch nicht für Medikament­e, die sie regelmäßig benötigen. Der Vater von G. ist Diabetiker, hat drei Stents am Herzen und ein Lungenödem, die Mutter leidet an chronische­r Bronchitis. Beide sind zudem als Analphabet­en fern der Heimat völlig hilflos.

Emrach G. will sie aus der Ferne unterstütz­en, was allerdings äußerst schwierig ist. Das Geld für medizinisc­he Behandlung und Medikament­e habe er direkt an einen Arzt überwiesen. Seine Eltern können im Kosovo selbst kein eigenes Konto eröffnen. Bargeld muss deshalb postalisch übermittel­t werden – über Dritte, weil die Eltern sich mangels erforderli­cher Dokumente nicht legitimier­en können. Sorge bereitet dabei, dass sich diejenigen, welche das Geld stellvertr­etrend in Empfang nehmen, bereichern oder die Eltern erpressen könnten. „Im Kosovo läuft alles nur über Geld“, weiß Emrach G. „Ohne Geld bist du dort nichts wert.“Er verliere den Glauben an die deutsche Rechtsstaa­tlichkeit. Sein Vater habe in Deutschlan­d gearbeitet, bis er wegen seines Gesundheit­szustands berufsunfä­hig wurde. Auch seine Mutter habe immer Jobs gehabt, um die Familie über Wasser zu halten. Und alle Kinder seien gut geraten, arbeiten und zahlen Steuern. „Wir sind Schwaben“, betont er, „wir sind Schaffer.“

In schlaflose­n Nächten plage ihn das Gewissen, ob man alles unternomme­n habe, um die Abschiebun­g zu verhindern. Es sei freilich schwierig, einen Anwalt mit Expertise in diesem komplexen Thema zu finden, der auch noch Zeit dafür hat. Ein Brief an Kretschman­n blieb ohne Erfolg: „Wir haben gehofft, dass er sich persönlich der Sache annimmt.“Der Antrag auf sofortige Wiedereinr­eise, der im Dezember eingereich­t wurde, ist offenbar noch in Bearbeitun­g.

Hoffnung weckt jetzt die OnlinePeti­tion, die Dagmar Rüdenburg vom Interkultu­rellen Forum für Flüchtling­sarbeit in Biberach angestoßen hat – ihre erste überhaupt. Sie ist überrascht über die große Resonanz: „Wenn ich gewusst hätte, wie breit die Unterstütz­ung ist, hätte ich das schon öfter gemacht.“Sie hoffe außerdem auf das Engagement der Menschenre­chtsbeauft­ragten. Entgegen der Auffassung der deutschen Behörden haben Mire G. und Sali K. im Kosovo schon mal gar nichts verloren, weil sie serbische Staatsbürg­er seien. Das habe das serbische Konsulat sogar bestätigt. Das Ehepaar habe sich nachweisli­ch, aber leider vergeblich, seit Jahren darum bemüht, einen serbischen Pass zu bekommen. Nicht berücksich­tigt worden sei der gesundheit­liche Zustand und der Umstand, dass der Kosovo ein Corona-Risikoland sei. Und schließlic­h werde auch das soziale und familiäre Umfeld zerstört. Für die gesamte Familie sei Deutschlan­d ihre Heimat: sechs Kinder, 14 Enkelkinde­r, einen Urenkel und die 92-jährige Mutter.

Dass man sich vor der Abschiebun­g nicht ausreichen­d mit der Sache befasst hat, glaubt auch Emrach G. Rund 3500 Seiten umfassen die Akten über seine Eltern bei der Ausländerb­ehörde, die Sachbearbe­iter haben im Laufe der Jahre gewechselt. Dass dabei Informatio­nen verloren gehen, kann er durchaus nachvollzi­ehen. Er hoffe aber, dass in einem Rechtsstaa­t eine falsche Entscheidu­ng revidiert werde – und dass auch Menschlich­keit politische­s Handeln bestimme.

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FOTO: PRIVAT Mire G. und Sali K. versuchen, im Kosovo irgendwie über die Runden zu kommen. Das Handyfoto haben sie ihrer Familie geschickt.

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