Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Wenn Kindern Bewegung fehlt
Ärzte und Forscher beklagen, dass der Sport im Lockdown in Sippenhaft genommen wird
TÜBINGEN - Bei Linus und Luis war die Vorfreude groß. Nach den Weihnachtsferien wollten die sechs Jahre alten Zwillinge endlich wieder zum Fußball-Training gehen. Daraus wurde nichts, weil jedes Training in Sportvereinen untersagt wird. Auch im Sportunterricht in der Schule können sich die bewegungshungrigen Kinder nicht austoben, weil wegen der Verlängerung des Lockdowns auch die Schulen geschlossen bleiben.
Während die Eltern in diesen Tagen mit den Herausforderungen des Homeschoolings mit Deutsch, Englisch und Mathematik kämpfen, machen sich die beiden Tübinger Professoren Andreas Nieß und Ansgar Thiel mehr Sorgen um die Entwicklung der Kinder. „Bewegung spielt bei Kindern eine ganz entscheidende Rolle, denn Kinder erschließen sich ihre Umwelt über Bewegung“, sagt Sportmediziner Nieß. Und Sportwissenschaftler Thiel ergänzt: „Wenn Kinder in einer Entwicklungsphase Dinge nicht erlernen, dann können sie das später vielleicht aufholen, tun sich aber schwerer.“Ohne ausreichende Bewegung wurden auch schon entwicklungsmäßige und kognitive Defizite festgestellt.
Koordinative und motorische Fähigkeiten können sich nicht ausbilden, Synapsen nicht verknüpft werden. Auch entfallen die positiven Effekte für das Herz-Kreislauf-System. Die Spätfolgen sind unabsehbar.
Dass sich Kinder und Jugendliche zu wenig bewegen, wird nicht erst seit dem Lockdown infolge der Corona-Pandemie beklagt. 90 Minuten sollten sich Grundschulkinder täglich bewegen. Doch davon sind sie weit entfernt, wie Professor Alexander Woll vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) in einer Untersuchung herausgefunden hat. „Das Thema Bewegungsmangel hat zugenommen“, sagt der Sportwissenschaftler. Dies gelte vor allem für den Bereich der unorganisierten körperlich-sportlichen Aktivitäten im Familien- oder Freundeskreis. Dieser hat sich im Zeitraum von 2003 bis 2018 circa halbiert. Einen positiven Effekt hat Woll doch festgestellt: „Im selben Zeitraum hat sich das organisierte Sporttreiben in Schule und Verein von 180 Minuten in der Woche auf 204 Minuten gesteigert.“
Eine andere Erkenntnis der Studie überrascht weniger: „Die Bildschirmzeit in der Freizeit – schon vorher auf einem hohen Niveau – hat noch einmal um etwa eine Stunde zugenommen.“
Was ist, wenn sowohl Bewegung in der Schule wie auch im Verein ausfallen? „Zwischen fünf und acht Jahren findet der Zugang zum Sport und zum Sportverein statt“, erklärt Ansgar Thiel, „wenn das wegfällt, kann das Folgen haben.“Langfristige Folgen. „Wie sportlich aktiv sind sie dann als Jugendliche? Was dann bedingt: Was machen sie als Erwachsene?“, fragt Mediziner Nieß. Die Auswirkungen auf die Gesundheit in fortgeschrittenem Alter sind noch nicht absehbar. Was jedoch schon Fakt ist, zeigt eine Studie der KKH Kaufmännische Krankenkasse. Zwischen 2008 und 2018 hat demnach die Zahl der Mädchen und Jungen mit extremem Übergewicht um 30 Prozent zugenommen. Der Lockdown hat diese Tendenz auf breiter Basis vorangetrieben, wie Sportlehrer nach dem Ende des ersten Lockdowns
Sportwissenschaftler Ansgar Thiel über den fehlenden Schulsport.
im Frühjahr beobachtet haben.
Unabhängig von der Pandemie fordern Sportwissenschaftler und Mediziner seit Jahren von der Politik, dass sie für mehr Bewegung in der Schule eintreten müsste. Die tägliche Sportstunde wäre das Ideal, in Wirklichkeit wird an vielen Schulen um die dritte Sportstunde pro Woche gekämpft. „Die Politik versagt in dieser Hinsicht“, sagt Thiel, „weil sie das Problem einfach ignoriert.“Auch darüber, wie das Thema Bewegung attraktiv und zeitgemäß vermittelt wird, müsste nachgedacht werden.
Nicht nur ausreichende Bewegungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche werden im Lockdown stillgelegt, sondern der komplette Breitensport. „Der Sport ist in einer gewissen Form von Sippenhaft“, beklagt sich Alfons Hörmann, Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB). Und offenbart damit die mangelnde Lobby. Denn sowohl im Pandemierat wie auch in der Leopoldina, der deutschen Akademie der Wissenschaften, ist kein Vertreter mit ausgewiesenem Sportbezug vertreten.
Dies würde Linus und Luis zwar in ihrer momentanen Situation nicht helfen, aber vielleicht ihren erzwungenen Stillstand schneller aufheben.
„Die Politik versagt in dieser Hinsicht, weil sie das Problem einfach ignoriert.“