Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Twitter und die Demokratie
Regierungen planen bereits striktere Regeln für Social-Media-Plattformen – Wissenschaftler fordern eine gesellschaftliche Debatte
RAVENSBURG - Das Jahr 2021 könnte eines der einschneidendsten in der Geschichte des Internets werden. Es könnte das Jahr werden, in dem Regierungen große Social-MediaPlattformen stärker in die Verantwortung für ihre Inhalte nehmen. Grund dafür: Die Erstürmung des US-Kapitols in Washington Anfang Januar.
Nachdem seine Anhänger den Parlamentssitz gestürmt hatten, sperrten die großen Social-MediaFirmen wie Twitter, Facebook und Google die Accounts des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump. Er habe Menschen aufgehetzt, so die Begründung. Bereits zuvor hatte es immer wieder scharfe Kritik an offensichtlichen Lügen gegeben, die Trump via Twitter & Co. verbreitet hatte. Deswegen stieß die Sperre seiner Online-Auftritte auf allgemeine Zustimmung. Doch die Plattformen ernteten auch viel Kritik: Die Entscheidung stehe den Konzernen nicht zu und sei undemokratisch. EU-Kommissar Thierry Breton nannte den Sturm auf das Kapitol deshalb den 11.September der sozialen Netzwerke. So wie die islamistischen Attacken auf die New Yorker Zwillingstürme 2011 die Sicherheitspolitik verändert habe, werde der 6. Januar die Rolle der Social-Media-Plattformen für die Demokratie verändern.
Tatsächlich planen Regierungen mehr Regeln für die Plattformen. In Deutschland gibt es bereits ein solches Gesetz, die EU berät über einen eigenen Entwurf. Grundsätzlich sei es sinnvoll, die Macht der Webgiganten gesellschaftlich zu regulieren, sagt Markus Beckedahl vom Verein netzpolitik.org. Dieser setzt sich für digitale Freiheitsrechte in Deutschland ein. „Wenn Konzernchefs wie Mark Zuckerberg in Gutsherren-Art darüber entscheiden, was im Internet steht, dann ist das ein Problem“, so Beckedahl. Denn die Konzerne haben nicht nur Meinungsmacht, indem sie jedem eine Plattform bieten. Sperrungen von Accounts treffen auch Privatpersonen hart. „Über 90 Prozent der unter 30-Jährigen nutzen heute WhatsApp, wer den Account verliert, ist gesellschaftlich ausgeschlossen“, sagt Beckedahl.
Die Rechtslage in Deutschland und den USA ist jedoch sehr unterschiedlich. „In den USA darf ein Konzern auf seiner Plattform größtenteils machen, was er will. In Deutschland gibt es wesentlich strengere Regeln“, so Beckedahl. Wer seinen Account verliere, könne sich in Deutschland den Weg zurück auf die Plattform erklagen. So hatte etwa die rechte Partei „Der Dritte Weg“beim Bundesverfassungsgericht erreicht, das Facebook einen Account wieder freigeben musste. Das Unternehmen hatten diesen zuvor wegen „Hassrede“gesperrt. Der baden-württembergische Verfassungsschutz beobachtet „Der Dritte Weg“und bezeichnet die Partei als „Neonazismus in Reinkultur“.
Der Hohenheimer Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider hält das Handeln der Konzerne für rechtlich zunächst unproblematisch. „Twitter hat ja in seinen
Geschäftsbedingungen stehen, dass gewaltverherrlichende Inhalte oder Aufrufe zur Gewalt gelöscht werden. Das, was Trump getan hat, fällt da definitiv drunter.“Eine andere Frage sei es aber, wer nach welchen Kriterien entscheide, was gesperrt werde und ob man diese Entscheidungen privaten Unternehmen überlassen möchte.
Brettschneider erklärt: „In Deutschland haben wir mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz bereits eine Regelung, die Plattformen verpflichtet, falsche oder offensichtlich rechtswidrige Inhalte zu löschen, auf EU-Ebene gibt es ähnliches.“Das „NetzDG“genannte Gesetz sorgte tatsächlich dafür, dass Facebook, Twitter und andere Firmen in Deutschland Redakteure einstellten. Diese sollen die Beschwerden der Nutzer bearbeiten und offensichtlich rechtswidrige Inhalte löschen. Diese müssen auch der Polizei gemeldet werden. Kritik gibt es unter anderem, weil den Behörden oft Personal fehlt, um den Meldungen nachzugehen.
Die EU berät derweil ihrerseits über das „Digitale-Dienste-Gesetz“. Vorbild sind die deutschen Regeln. Das neue Gesetz soll laut EU die Entfernung illegaler Inhalte aus dem Netz erleichtern und die Grundrechte der Nutzer besser schützen. Es nimmt vor allem jene Online-Plattformen in den Fokus, die mehr als zehn Prozent der EU-Bevölkerung erreichen.
Auch der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen findet die Entscheidung der Social-Media-Riesen zur Sperrung von Trumps Accounts „absolut richtig, aber auch hochproblematisch“. Er sagt: „Es gibt ja auch kein Grundrecht darauf, Abscheulichkeiten in die Welt zu pusten, und Twitter hat hier die eigenen Richtlinien umgesetzt.“ Die drohende Gefahr habe das Handeln notwendig gemacht. „Nach dem Sturm auf das Kapitol konnte jeder sehen, hier braut sich etwas zusammen, hier wird Gewalt propagiert“, sagt Pörksen.
Beckedahl, Brettschneider und Pörksen fordern eine gesellschaftliche Debatte über die Entscheidungskriterien für Accountsperren und Löschungen. Denn längst spielen die Plattformen in der Demokratie eine wichtige Rolle. Sie sind Informationsquellen und tragen zur Meinungsbildung bei. Anders als bei den klassischen Medien fehlt aus Sicht der Fachleute aber eine Redaktion, die Inhalte auf Richtigkeit und Qualität überprüft und auf politische Ausgewogenheit achte.
Ihre Macht beziehen die Sozialen Medien außerdem daher, dass Gleichgesinnte sich vernetzen können. Deshalb bekräftigen sie nach Ansicht der Wissenschaftler oft Meinungen
bestimmter Gruppen. Und: Durch die Algorhythmen der Plattformen sehen Nutzer oft vor allem Meldungen, die ihre bereits bestehenden Ansichten verstärken. Auch so nehmen sie großen Einfluss auf die Meinungsbildung.
Diese Macht muss also reguliert werden, warnen Politik und Wissenschaft – aber wie? Das Dilemma sei, dass Staat und Gesellschaft der Entwicklung in den Netzwerken hinterherhinkten und nur reagieren könnten. Und: „Bis ein Gericht entschieden hat, dass eine Nachricht vom Netz genommen werden muss, ist es natürlich viel zu spät“, so Brettschneider. Es gebe eine gewisse Hilflosigkeit der Gesetzgeber den Plattform-Betreibern gegenüber. Beckedahl sagt: „Teilweise wollen die Betreiber bis zu einen Monat für die Zeit bis zur Prüfung der Inhalte. Das ist natürlich schwierig, wenn Sie etwa eine Live-Show betreiben.“
Der Vorfall um die Sperrung von Trumps Accounts hat eine Signalwirkung. Bislang wiesen Facebook und Co. die Verantwortung von sich: Sie seien neutral, stellen Nutzern lediglich Kommunikationstechnik zur Verfügung. Frank Brettschneider glaubt aber, dass sich das nun ändert: „Der Trump-Fall wird da aber künftig als Referenzpunkt dienen, so schnell können die Unternehmen jetzt nicht mehr zu dieser Haltung zurück.“Auch weil sich gerade in den USA abzeichne, dass künftig mehr Kontrolle auf die Konzerne ausgeübt wird. US-Präsident Joe Biden hat bereits angekündigt, mehr Regeln einzuführen, die Social-Media-Plattformen betreffen.
Vor allem aber bräuchten Bürger mehr Kompetenz im Umgang mit Social-Media. Hier müssten etwa Schulen mehr leisten. Medienwissenschaftler Pörksen fordert sogenannte Plattform-Räte – also Gremien, in denen Regeln für die Netzwerke debattiert würden. Darin sollten Plattformbetreiber, Journalisten, Verleger, Wissenschaftler und Vertreter der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen sitzen. Zur Machbarkeit sagt Pörksen: „Natürlich kann man sagen, es ist illusorisch, aber wir haben gesehen, Desinformation ist ungeheuer folgenreich, destabilisiert überall auf der Welt ganze Demokratien. FakeNews sind potenziell tödlich.“