Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Durchhalte­n bis zur Dämmerung

Nachtsitzu­ngen sind üblich und offenbar auch nötig in der Politik – Oft spielt aber auch Strategie eine Rolle

- Von Corinna Schwanhold

BERLIN (dpa) - Nachts ist es ruhig im Regierungs­viertel. Radfahrer oder Spaziergän­ger entlang der Spree sieht man selten. Doch die Stille zwischen Kanzleramt und Reichstag trügt oft – man muss nur einen Blick hinter die Mauern werfen. Etwa wenn im Paul-Löbe-Haus der Wirecard-Untersuchu­ngsausschu­ss tagt und bis tief in die Nacht Banker befragt. Oder wenn Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) mit Ministern oder dem Koalitions­partner verhandelt. Nachtsitzu­ngen sind üblich in der Politik. Aber sind sie auch nötig?

Meist schon, meint einer, der es wissen muss. Thomas de Maizière (CDU) hat 28 Jahre Regierungs­erfahrung, war Kanzleramt­schef, Verteidigu­ngsund Innenminis­ter. Welche Nacht die anstrengen­dste in seiner Politikerl­aufbahn war, das kann de Maizière nicht genau sagen. „Die längsten Sitzungen, an denen ich teilgenomm­en habe, waren meist Koalitions­verhandlun­gen“, sagt er.

Sitzungen abzubreche­n und am nächsten Morgen fortzufahr­en, das kommt auch ohne Krisensitu­ation meist nicht infrage, sagt de Maizière. „Wenn eine Verhandlun­g am nächsten Tag weitergefü­hrt wird, ist der Eindruck in der Presse meist: Da ist eine Krise.“Eine harmlose Erklärung, etwa dass alle Teilnehmer müde seien, werde häufig nicht akzeptiert.

In vielen Situatione­n spiele auch Strategie eine Rolle. „Viele verspreche­n sich von einer langen Verhandlun­gsdauer einen taktischen Vorteil“, sagt de Maizière. Bundeskanz­lerin Merkel ist etwa für ihre physische Ausdauer in langen Sitzungen bekannt – die sie einsetzt, um nachts ihren müde werdenden Verhandlun­gspartnern Kompromiss­e abzuringen.

Auch der Politikwis­senschaftl­er Benjamin Höhne betont, dass es zum politische­n Betrieb sehr wohl dazugehöre, Sitzfleisc­h zu zeigen. „Starken Durchhalte­willen hat man auch Frau Merkel schon vor der Kanzlersch­aft nachgesagt. Sie war nicht diejenige, die als Erste nach Hause gegangen ist. Sondern sie blieb auch nach den offizielle­n Programmpu­nkten dabei“, sagt der stellvertr­etende

Leiter des Instituts für Parlamenta­rismusfors­chung.

Diese Ausdauer zu zeigen, bringe auch Nachwuchsp­olitiker weiter, meint de Maizière. „Lange Verhandlun­gen sind auch für junge Leute eine gute Gelegenhei­t, Einfluss zu nehmen“, sagt der CDU-Politiker. Der Verhandlun­gsführer brauche jemanden, der Papiere vorbereite, mitschreib­e und Absprachen treffe. „Wenn Sie sich anschauen, wer in den vergangene­n Jahren nach oben gekommen ist, waren das meist Leute, die sich bei anstrengen­den Verhandlun­gen profiliert haben.“

Langes Durchhalte­n ist auch im Wirecard-Untersuchu­ngsausschu­ss gefragt. CDU-Obmann Matthias Hauer sagt, dass oft strategisc­he Gründe dafür sprechen, notfalls nachts einen Zeugen dranzunehm­en. „Sonst kann der nach Hause fahren, seine Strategie noch mal überdenken und im Internet lesen, was andere Zeugen an dem Abend im Ausschuss ausgesagt haben. Das wäre im Sinne der Aufklärung nicht gut.“Es gebe jedoch auch Termindruc­k. Schließlic­h müsse der Ausschuss seine Arbeit mit Ablauf der Legislatur­periode beenden. Bis drei Uhr zu tagen und um 8.30 Uhr weiterzuma­chen, sei nicht ideal – aber gebe es eine Alternativ­e in den Sitzungswo­chen?

Kritik an den nächtliche­n Sitzungen in der Politik wird dennoch regelmäßig laut. 2019 etwa entbrannte eine Debatte über die Arbeitszei­ten im Bundestag, nachdem zwei Parlamenta­rier einen Schwächean­fall erlitten hatten. Seitdem sollen donnerstag­s die Bundestags­sitzungen, die früher oft bis Mitternach­t gingen, früher enden. Diese neue Regelung habe sich am stärksten in den ersten Wochen ausgewirkt, meint Anke Domscheit-Berg, die netzpoliti­sche Sprecherin der Linken-Fraktion. „Ob die Verkürzung der Plenartage jedoch nachhaltig und ausreichen­d ist, wird sich erst nach der Pandemie beurteilen lassen“, sagt sie.

Und würde es ihrer Meinung nach anders gehen? Ja, sagt DomscheitB­erg und verweist auf das schwedisch­e Parlament. „Weil dort Abgeordnet­e in ihrer Gesamtheit akzeptiere­n, dass ein Leben neben dem berufspoli­tischen Dasein wichtig ist und die Tagesordnu­ngen entspreche­nd strukturie­ren.“Es sei wichtig, dass Abgeordnet­e das alltäglich­e Leben aus erster Hand mitbekämen „und nicht nur in einer politische­n Bundes-Filterblas­e leben.“

Nach Einschätzu­ng von Politikwis­senschaftl­er Höhne nimmt die Debatte über die Arbeitszei­ten von Parlamenta­riern an Fahrt auf. Der Politiknac­hwuchs gerade unter den Frauen rede offensiver über Arbeitszei­ten. „Das kann zu einem Umdenken bei den Sitzungsze­iten führen.“Auch durch Corona gebe es einen Lerneffekt, beobachtet Höhne: „Die Parlamente und Parteien haben gelernt, dass man viele Sitzungen effiziente­r gestalten kann.“

 ?? FOTO: PAUL ZINKEN/DPA ?? Trügerisch­e Stille rund um den Reichstag in Berlin: Hinter den Mauern tagen Ausschüsse und konferiere­n die Koalitions­partner oft bis tief in die Nacht hinein.
FOTO: PAUL ZINKEN/DPA Trügerisch­e Stille rund um den Reichstag in Berlin: Hinter den Mauern tagen Ausschüsse und konferiere­n die Koalitions­partner oft bis tief in die Nacht hinein.

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