Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Angst vor einer Hungersnot
Der Konflikt in Tigray im Norden von Äthiopien droht die gesamte Region zu destabilisieren
ADDIS ABEBA (dpa) - Eigentlich sollte der Militäreinsatz in Tigray im Norden von Äthiopien schnell gehen: Die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) verdrängen, Ordnung schaffen, die Machtbalance wiederherstellen. Doch Äthiopiens Regierungschef Abiy Ahmed hat sich verkalkuliert. Die Grundversorgung von Millionen von Menschen ist zusammengebrochen, und bei der Bevölkerung kommt nicht genug Hilfe an – Helfer warnen vor einer Hungersnot. Und der Konflikt mit der TPLF hat sich in einen komplexen Krieg verwandelt, der den Nachbarn Eritrea mit hineingezogen hat und droht, die Region zu destabilisieren. Das könnte bis nach Europa zu spüren sein.
„Viele Menschen sind auf der Flucht. Viele Dinge, die einst funktionierten, funktionieren nicht“, beschreibt Edward Brown, der Leiter der Hilfsorganisation World Vision in Äthiopien, die Lage vor Ort. In Tigray sei es zuvor eigentlich friedlich gewesen. „Dann passierten die Ereignisse vom November. Das war ein Schock für das System.“
Im November schickte Abiy Truppen nach Tigray. Seit seinem Amtsantritt 2018 hatten sich Spannungen zwischen seiner Regierung und der TPLF aufgebaut. Denn die TPLF dominierte fast 30 Jahre lang die Politik in Äthiopien und regierte mit harter Hand, bis Abiy sie hinausdrängte. In der Region Tigray blieb die Partei und einstige Rebellengruppe jedoch an der Macht. Als sie sich im September der Zentralregierung widersetzte und trotz der Corona-Pandemie eine Regionalwahl abhielt, spitzte sich die Lage zu.
„Fast die komplette Region braucht Nahrungsmittelhilfe“, sagt Kate White, die Nothilfe-Managerin für Tigray von Ärzte ohne Grenzen. Viele Menschen sind auf der Flucht und konnten ihre Ernte nicht einholen. Selbst die, die noch ein Dach über dem Kopf haben, brauchen Hilfe: Denn noch immer haben viele keinen Strom, keinen Zugang zu Wasser.
Neben den Einwohnern leiden auch die Flüchtlinge. In Tigray gab es vor dem Konflikt vier Flüchtlingslager, in denen rund 96 000 Eritreer lebten. Als die Kämpfe losgingen, mussten die Helfer Tigray verlassen, wie der Sprecher des UN-Flüchtlingshilfswerks in Deutschland, Chris Melzer, sagt. Die zwei Lager im Süden seien dann zwei Monate komplett von jeglicher Hilfe abgeschnitten gewesen, bis wieder Nahrungsmittel geliefert werden konnten. Wie es um die beiden nördlichen Camps steht, wisse man nicht. Dem UNFlüchtlingshilfswerk sei noch kein Zugang gewährt worden.
Noch im November hatte die Regierung die Militäroffensive gegen die TPLF für beendet erklärt – dennoch gehen die Kämpfe weiter. Und sie sind komplexer geworden. Neben der nationalen Armee und der TPLF sind nun auch Milizen der Nachbarregion Amhara, eritreische Soldaten und junge tigrayische Kämpfer involviert, wie Annette Weber von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) erklärt. „Wir sind in Äthiopien noch lange nicht am Ende des Konflikts.“Dieser droht nun die Region zu destabilisieren. Zum einen wurde der Nachbar Eritrea in den Konflikt hineingezogen, mit dem Äthiopien einst einen blutigen
Grenzkrieg geführt hatte. Eritrea wird von dem autokratischen Präsidenten Isaias Afewerki regiert. Der harte Wehrdienst im Land hat bereits Tausende in die Flucht getrieben, viele davon nach Deutschland. Die eritreischen Soldaten seien auf Einladung der äthiopischen Regierung in Tigray, würden aber nicht von ihr kontrolliert, warnt Weber.
Zum anderen eskalieren die Spannungen mit dem Sudan. Der Nachbar hat trotz seiner miserablen Wirtschaftslage 60 000 Flüchtlinge aus Tigray aufgenommen. Die Verhandlungen über den umstrittenen GERD-Staudamm in Äthiopien sind jüngst abgebrochen worden. Und ein langjähriger Disput über ein Grenzgebiet ist wieder aufgeflammt, auf beiden Seiten wurden Truppen mobilisiert. Diese Eskalation müsse gestoppt werden, bevor es zu einem Krieg kommt, mahnt Weber. Ein solcher hätte auch Auswirkungen über die Region hinaus. Denn der Sudan und Äthiopien sind Schlüsselländer in Afrika. Äthiopien mit seinen 112 Millionen Einwohnern und dem Sitz der Afrikanischen Union und der Sudan am Scheideweg zwischen Afrika und der arabischen Welt haben großen Einfluss auf wichtige Entwicklungen, von Migration gen Europa bis hin zur Terrorbekämpfung.