Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Die außerordentliche Corona-Runde
Die Bürgerbeteiligung über neue Online-Foren steigt – Mitbestimmung gibt es aber kaum
RAVENSBURG - Die Pandemie hat Kathrin Fischer aus Ravensburg schon aufgewühlt, als sich noch niemand in Deutschland mit Corona infiziert hatte. „Schon seit Wuhan habe ich mich viel damit beschäftigt“, sagt Fischer. Sie ist China-affin, hat dort für längere Zeit gelebt. Dass sie nun mitreden darf und womöglich von Politikern gehört wird, ist der Mitarbeiterin eines Marketingunternehmens und Mutter von zwei Kindern ein echtes Anliegen.
Seit Mitte Dezember ist Kathrin Fischer eine von 50 zufällig ausgewählten Teilnehmern des Bürgerforums Corona, das der Landesregierung neue Perspektiven liefern soll. Seit der Volksabstimmung zu Stuttgart 21 hat das Staatsministerium viel an den Strukturen der Verwaltungen geändert. Das Ziel: Bürgerbeteiligung soll Regel statt Ausnahme sein. Vor wirklicher Mitbestimmung scheut die Politik jedoch zurück.
An vier Online-Versammlungen des Bürgerforums hat Kathrin Fischer seit Dezember teilgenommen – jeweils drei Stunden. Etwas zu viele Expertenvorträge seien es bisher gewesen, sie wünscht sich mehr Zeit zum Diskutieren. „Ich empfinde den Lockdown als nicht besonders schlimm. Die Sorgen und Nöte anderer zu hören, das war neu und wichtig für mich.“Fischer fühlt sich ernst genommen, „ob die Regierung damit etwas anfangen kann, weiß ich nicht“.
Die Ergebnisse des Bürgerforums Corona werden mündlich in die Ministerrunde weitergegeben. Die Expertenvorträge und die Ansichten der Bürger werden außerdem auf dem Beteiligungsportal des Landes veröffentlicht, eine schriftliche Fassung geht an das Sozialministerium. Die Vorschläge des Forums sind unverbindlich, die Politik höre jedoch sehr genau zu, sagt Staatsrätin Gisela Erler. Sie nennt es eine „Tiefenbohrung in die Gesellschaft“.
Stellvertretend für die Landesregierung ist Erler bei jeder Sitzung des Bürgerforums Corona anwesend. Eine ihrer bisherigen Einsichten: Die Landesregierung kann ihre Kommunikation verbessern. „Politiker reden mit der Wirtschaft, Wissenschaftlern und Verbänden über die Pandemie, doch zu wenig mit den Bürgerinnen und Bürgern“, sagt sie. Das, was die Landesregierung in der Pandemie tut, sei manchmal unverständlich – vor allem rund ums Impfen. Durch den Austausch lernt einerseits die Politik, „gleichzeitig merken die Teilnehmer, dass es für uns keine einfachen Lösungen gibt – das führt dazu, dass der Respekt wächst.“
Seit die Grünen 2011 die Regierung im Südwesten anführen, ist Gisela Erler zuständig für die Bürgerbeteiligung im Land. Vor allem wegen des Meinungskriegs um Stuttgart 21 und der Volksabstimmung installierte der neue Ministerpräsident Winfried Kretschmann damals das Ehrenamt der Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung – besetzt wurde es mit Kretschmanns langer Vetrauten Gisela Erler.
„Baden-Württemberg hat eine gewisse Vorreiterrolle erlangt“, bewertet Politikexperte Ulrich Eith die Ära Erlers, die in diesem Frühjahr, zum Schluss der Legislaturperiode, endet. Als erstes Bundesland verabschiedete Baden-Württemberg 2013 eine Verwaltungsvorschrift, die Behörden verpflichtet, vor großen Infrastrukturmaßnahmen eine Bürgerbeteiligung durchzuführen.
Sarah Händel vom Verein „Mehr Demokratie“sieht das Land auf dem „richtigen Gleis“. Die Landesregierung habe es geschafft, die Kultur in Verwaltungen zu verändern – viele Beamte hätten sich bereits daran gewöhnt, dass Bürgerbeteiligung die Regel ist, sagt Händel. Das habe sich auch in den meisten Programmen für die Landtagswahl widergespiegelt, „nur die Volkspartei CDU schien dazu nichts weiter zu sagen zu haben“. Natürlich gebe es immer noch welche, die sich sträuben, sagt Gisela Erler. Der Konflikt rund um Stuttgart 21 habe jedoch vielen gezeigt, was passiert, wenn man die Bevölkerung von der Planung ausschließt – „wenn es schief läuft, dann richtig.“
Bürgerbeteiligung ist weder teurer, noch verzögert es die Vorhaben, sagt Erler. „Der Start dauert vielleicht etwas länger, dann läuft es aber besser. Verzögerungen gibt es nicht wegen der Bürgerbeteiligung, sondern wegen einzelner Klagen.“
Das Mittel der Wahl ist für Erler bisher die konsultative Bürgerbeteiligung: Die Bevölkerung redet mit, entscheidet aber nicht. „Die andere Form der Beteiligung ist die direktdemokratische – mit all ihren Vorund Nachteilen“, so Politikwissenschaftler Ulrich Eith. „Die Entscheidungen sind meistens knapp, und die Fronten so verhärtet, dass die Konflikte oft mit der Entscheidung nicht aus der Welt geschaffen sind“, beschreibt Eith die Nachteile. Außerdem
berge die direkte Demokratie manchmal die Gefahr der Polarisierung, sagt Staatsrätin Erler. Bestes Beispiel: der Brexit. Die Frage Ja oder Nein sei meistens zu eindimensional.
Der Vergleich mit dem Brexit ist irreführend, sagt hingegen Sarah Händel vom Verein „Mehr Demokratie“: „Die Briten hatten keine Erfahrungen mit direkter Demokratie, und dann wenden sie dieses Mittel direkt bei der emotionalsten Frage an.“Solche Prozesse brauchten Übung, mehr Bürgerentscheide in Kommunen und auf Landesebene gehörten deshalb gefördert, so Händel, gerade von einer grünen Landesregierung.
Derzeit könnten nur sehr wenige Bürger eine positive Demokratie-Erfahrung machen, sagt Händel, „die Mehrheit bleibt außen vor“. Sie wünscht sich einen einfacheren Zugang zu Volksanträgen und Volksbegehren. Die alte und neue Landesregierung unter Kretschmann wolle sich nur beraten lassen, Impulse zu setzen und das Mitentscheiden werde Bürgern unnötig schwer gemacht, sagt Händel. Dabei gehöre Eigenverantwortung eigentlich zur DNA der Grünen, doch: „Je länger sie an der Regierung sind, desto mehr lässt scheinbar ihr Antrieb nach, mehr echte Mitsprache zu ermöglichen.“
Kathrin Fischer aus Ravensburg glaubt, dass sich die vielen Stunden und ihr Einsatz im Bürgerforum Corona durchaus lohnt: „Ich finde schon, dass wir einen Beitrag zur Demokratie leisten.“Aber auch bei mehr direkter Mitbestimmung wäre sie dabei, ergänzt Fischer.