Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Der Ton wird schärfer
EU-Chefs finden keine gemeinsame Linie in der Impfstrategie
BRÜSSEL - Die Grundstimmung war gereizt, als Ratspräsident Charles Michel am Donnerstag die Regierungschefs der EU zu einem weiteren virtuellen Impfgipfel zusammenschaltete. Am Dienstag hatte er in seiner Einladung das Thema umrissen: „Es ist unsere oberste Priorität, die Impfkampagnen EU-weit zu beschleunigen. Dafür müssen wir die Produktion ankurbeln, die Lieferkapazitäten erhöhen und einen besseren Überblick über die Vorräte bekommen.“Bezogen auf Europas Rolle in der Welt mahnte er: „Unsere Einigkeit ist die Voraussetzung dafür, dass wir Einfluss geltend machen können.“
Um einen Überblick über die in der EU lagernden Impfstoffe bemüht sich im Auftrag der EU-Kommission deren Industriekommissar Thierry Breton. In den vergangenen Wochen besuchte er jeden einzelnen Produktionsstandort und sprach mit den Verantwortlichen vor Ort. Als „La Stampa“am Mittwoch enthüllte, dass die italienische Polizei in einem Lager 29 Millionen Dosen Astra-Zeneca-Impfstoff entdeckt hat, die vermutlich in den Niederlanden hergestellt und in Italien abgefüllt wurden, schien das ein weiteres Indiz dafür, dass der EU der Überblick noch immer fehlt. Das Unternehmen behauptet, allein 13 Millionen davon seien für Covax, das EU-Impfprogramm für besonders bedürftige Länder, vorgesehen. In der EU schwindet allerdings zunehmend das Verständnis dafür, dass der Kontinent mit der größten Anzahl an Vakzinproduzenten so schlecht für sich selbst sorgen kann.
Obwohl immer mehr Regierungschefs offen für Exportbeschränkungen plädieren, warnen andere vor einem Handelskrieg, den die EU nur verlieren könne. Deshalb stieß ein Vorschlag Ursula von der Leyens vom Mittwoch, die bereits geltende Vorschrift zu verschärfen, auf ein geteiltes Echo. Die Kommission will, dass nicht nur Ausfuhren in Länder gestoppt werden können, die ihrerseits nichts an die EU abgeben wollen. Sie will vielmehr auch einen Exportbann verhängen, wenn ein Land eine deutlich höhere Impfquote hat als die EU. Die neue Regel muss von den Regierungen abgesegnet werden und wäre danach zunächst für sechs Wochen gültig. Sie zielt hauptsächlich auf Großbritannien, könnte aber auch Israel oder die USA treffen, die ebenfalls deutlich höhere Impfquoten haben als die EU.
Auf Nachfrage betonen EU-Diplomaten allerdings stets, dass die USA zwar keinen Impfstoff aus dem Land lasse, bisher aber äußerst großzügig sei, was die für die Produktion nötigen Vorprodukte angehe. Es ist also zu vermuten, dass der neue USPräsident Joe Biden, der dem EUGipfel zugeschaltet war, keine Vorwürfe zu hören bekam, sondern äußerst freundlich aufgenommen wurde. Im Kreis der EU-Chefs hingegen wird der Ton mit jeder neu auftauchenden Mutante und jeder ausbleibenden Impfstofflieferung gereizter. Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki verlangte, dass Regierungen Zwangslizenzen für die Vakzinherstellung vergeben dürfen, damit weitere Produktionsstandorte aufgebaut werden können. Wo die so schnell herkommen sollen, weiß er natürlich auch nicht.
Während Tourismusländer wie Griechenland bereits laut über ein Reisezertifikat für den Sommer nachdenken, das seinem Inhaber Antikörper, eine Impfung oder einen aktuellen Negativtest bescheinigt, möchten andere am liebsten die Grenzen innerhalb des Schengenraums bis zum Ende der Seuche völlig dicht machen. Österreichs Kanzler Sebastian Kurz will einen Nachschlag aus der Extralieferung von 10 Millionen Dosen Biontech/PfizerVakzin, weil er zunächst aufs falsche Pferd setzte und das ihm zustehende Kontingent nicht voll ausschöpfte.
Doch er klagt auf hohem Niveau, findet unter anderem die Bundesregierung, denn in Österreich hat immerhin schon jeder elfte Erwachsene die erste Dosis erhalten, in Deutschland erst neun von hundert Impfwilligen. Damit bewegt sich Deutschland unterhalb des EU-Durchschnitts weit abgeschlagen hinter Malta, Ungarn, Finnland und Estland. Der Impfstreit, das wurde gestern wieder deutlich, vertieft die Gräben in der EU weiter.