Schwäbische Zeitung (Laupheim)
„Föderalismus ist nicht das Hauptproblem“
Die Politikwissenschaftlerin Nathalie Behnke zu den Defiziten im Corona-Krisenmanagement in Deutschland
BERLIN - Die Unzufriedenheit über das Regierungshandeln in der Corona-Krise ist kaum zu überhören. Doch wer ist eigentlich schuld am schlechten Krisenmanagement? Die föderale Struktur in Deutschland? Die Politikwissenschaftlerin Nathalie Behnke hält dies für zu kurz gedacht. Dass beispielsweise Gesundheitsämter seit 20 Jahren unterfinanziert seien, „ist nicht primär ein Föderalismusproblem, sondern ein grundlegendes Managementdefizit“, sagt die Professorin an der TU Darmstadt im Interview mit Claudia Kling.
Frau Behnke, wie erklären Sie die Schwierigkeiten beim Corona-Krisenmanagement? Liegt es am föderalen System oder gibt es andere Ursachen?
Im Fokus der öffentlichen Kritik steht derzeit vor allem die Ministerpräsidentenkonferenz. Durch diese Treffen ist der Eindruck entstanden, 16 Länderchefs und die Bundeskanzlerin kommen zusammen, verhandeln stundenlang, beschließen irgendetwas und anschließend macht jeder, was er will. Aber der Föderalismus ist nicht das Hauptproblem im Pandemiemanagement. Weder der Mangel an Impfstoffen noch die fehlende Strategie im Umgang mit den Virusmutationen lassen sich darauf zurückführen. Der institutionalisierte Austausch zwischen den Ländern trägt vielmehr dazu bei, dass die Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen – von Eltern, Kindern, Gewerbetreibenden – nicht einfach ausgeblendet werden. Ich wäre jedenfalls nicht glücklich darüber, wenn alle Entscheidungen allein nach den Vorstellungen der Kanzlerin, deren höchste Priorität die Eindämmung des Infektionsgeschehens ist, getroffen würden.
Deutschland ist seit Jahrzehnten geübt in föderalen Strukturen. Doch in der Corona-Krise äußern viele Menschen den Wunsch nach gleichen Vorgaben in allen Bundesländern. Woher kommt das?
Das hat viel mit den Worten Solidarität und Gerechtigkeit zu tun, die in der Corona-Krise immer wieder betont werden. Dadurch ist die Vorstellung entstanden, dass alle Menschen im Prinzip gleichermaßen von dem Coronavirus betroffen sind und deshalb auch annähernd gleich behandelt werden sollten. Aber Gerechtigkeit bedeutet eben nicht, alle gleich zu behandeln, sondern das Handeln an relevanten Kriterien auszurichten. Die Inzidenz ist ein solches Kriterium. Deshalb mag es sich für die Menschen in Landkreisen mit hohen Inzidenzen ungerecht anfühlen, wenn für sie strengere Kontaktbeschränkungen gelten als in Niedriginzidenzgebieten. Aber das ist es eben nicht. Alles andere wäre ungerecht.
Städte und Landkreise sind meistens außen vor, wenn über das schlechte Krisenmanagement diskutiert wird. Machen sie tatsächlich einen guten Job – oder bleiben sie schlicht unter der Wahrnehmungsgrenze?
In der Theorie ist es so geregelt: Seit Juni 2020 ist die Sieben-Tage-Inzidenz auf Landkreisebene ausschlaggebend für die Verordnungen, die dort gelten. Die Idee dahinter war, die Entscheidungen nicht den Ländern, sondern den Landkreisen zu überlassen. In der Praxis funktioniert das allerdings nicht – und deshalb greift in der föderalen Kompetenzordnung die Rechtsaufsicht durch das Land. Das heißt, die jeweilige Landesregierung müsste die Landkreise dazu zwingen, sich an Vereinbarungen zu halten – aber auch das gelingt nur bedingt. Ein Problem ist, dass Politiker inzwischen davor zurückschrecken, weitere LockdownMaßnahmen zu verkünden, weil Querdenker, Rechtspopulisten und Antidemokraten laut Stimmung dagegen machen. Deshalb werden Entscheidungen, die von der schweigenden Mehrheit durchaus mitgetragen werden, hin- und hergeschoben. Das ist nicht verantwortungsvoll, aber in der föderalen Kompetenzverteilung durchaus möglich.
Obwohl laut Umfragen eine Mehrheit hinter den Corona-Verordnungen steht, wird das Krisenmanagement öffentlich heftig kritisiert. Ist das nicht ein Widerspruch?
Das zu erklären ist tatsächlich schwierig. Es hat damit zu tun, dass die wirklich großen Probleme der heutigen Zeit wie der Klimawandel und die Corona-Pandemie so kompliziert sind, dass wir im Grunde alle damit überfordert sind. Es fällt uns ungeheuer schwer zu ertragen, dass es nicht die eine beste Lösung dafür gibt. Zugleich haben wir in Deutschland diese schwer nachvollziehbaren Verhandlungsprozesse zwischen Bund und Ländern, die auf den ersten Blick keine klaren Zuständigkeiten ergeben, auch wenn es sie gibt. Dies führt zu Unmut, Ungeduld und Unzufriedenheit und zur Sehnsucht nach einem handfesten Entscheider. Doch ich bin davon überzeugt, die scheinbar einfachen Lösungen wären der Komplexität dieser Probleme nicht angemessen und würden uns weniger weit bringen als das, was wir als Zickzackkurs, Salamitaktik und Hin-und-Her-Gezerre wahrnehmen. Wir sollten uns daran gewöhnen, dass wir Probleme vielleicht nicht mehr lösen, sondern nur noch bearbeiten können.
Erinnert Sie das Zusammenspiel von Bund und Ländern nicht aber auch an eine Wohngemeinschaft, in der die Verantwortlichkeiten nicht klar geregelt sind und folglich weder geputzt noch Klopapier gekauft wird?
Das ist schon so, und dafür gibt es auch keine institutionelle Entschuldigung. Natürlich passiert es, dass sich ein Gesundheitsminister und ein Ministerpräsident eines Landes hinstellen und die Zuständigkeit einfach auf den Bund schieben. Da spielen aber viele Faktoren mit, die mit dem Föderalismus an sich nichts zu tun haben.
Welche Rolle spielt dabei das Superwahljahr 2021 und die ungeklärte Kanzlerkandidatur in der Union?
Eine große. Die ganze Wahlkampfhektik, die wir jetzt haben, diese vermaledeite K-Frage zwischen Nordrhein-Westfalen und Bayern: Das verleitet Politiker dazu, sich nicht sehr rational zu verhalten und Spielchen zu spielen. Das macht das Krisenmanagement nicht besser. Mit Blick darauf ist der Föderalismus tatsächlich ein Nachteil. Denn ohne ihn hätten wir in diesem Jahr nur eine
Wahl und sehr viel weniger Wahlkampfgetöse.
Ist dies auch der Grund, warum die Ministerpräsidentenkonferenz in der ersten Pandemiewelle viel besser funktioniert hat als jetzt?
Mit Sicherheit, das ist offensichtlich. Dennoch finde ich es sehr bedauerlich, dass die Ministerpräsidenten nur bedingt vernünftig handeln und nicht das tun, was für das Land am besten wäre. Auch das Kalkül dahinter erschließt sich mir nicht. Denn eigentlich müssten sie ja davon ausgehen, dass gute Politik mit Wählerstimmen belohnt wird.
Hat die Corona-Krise etwas offenbar gemacht, was im Grunde schon lange klar war – dass der Föderalismus auch Fortschritte verhindert, etwa in der Digitalisierung, in der Bildung oder eben auch im öffentlichen Gesundheitsdienst?
Es gibt Themen und Probleme, die einfacher zu bearbeiten wären, wenn zentrale Entscheidungen getroffen würden, etwa im Softwarebereich. Aber dass Gesundheitsämter seit 20 Jahren unterfinanziert sind und an Personalmangel leiden, ist nicht primär ein Föderalismusproblem, sondern ein grundlegendes Managementdefizit. Unser Verwaltungshandeln ist gut genug für den Alltag, aber nicht in der Krise. Nach der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 wurde von Verwaltungspraktikern analysiert, welche Veränderungen notwendig wären, um besser und schneller agieren zu können. Doch all diese Papiere und Überlegungen wurden schlicht ignoriert. Sinnvoll wäre zudem eine Debatte darüber, welche Aufgaben auf kommunaler Ebene oder von den Ländern erfüllt werden können oder doch besser beim Bund aufgehoben wären. Dass sich die Kompetenzen im Bildungsbereich verschieben werden, erwarte ich allerdings nicht. Da kleben die Länder hartnäckig an ihrer Autonomie.
Noch einmal zurück zu Corona: Kanzlerin Merkel denkt über neue Formen des Krisenmanagements nach. Wie könnten die aussehen?
Die Ministerpräsidentenkonferenz wird es mit Sicherheit weiterhin geben. Diese Treffen sind für den Austausch der Länder äußerst wichtig. Aber das Format wurde in der Corona-Krise überfrachtet, indem die Erwartung geschaffen wurde, dass die Entscheidungen dieses Gremiums unmittelbare Gültigkeit haben. Auch das hat zu dem allgemeinen Gemurre geführt. Wenn die Kanzlerin Beschlüsse haben will, die rechtsverbindlich sind und die von den Ländern eins zu eins umgesetzt werden müssen, muss sie einen anderen Weg einschlagen. Sie kann ein Gesetzgebungsverfahren einleiten oder über eine Rechtsverordnung durch den Bundesrat gehen. Dafür war die Ministerpräsidentenkonferenz noch nie der geeignete Ort.