Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Nicht nur für Heilige ein kleines Paradies auf Erden
Nordmazedonien spielt bei der Fußball-EM mit und punktet auch als Reiseland
Die Szenen prägen sich ein: Eltern mit ihren Kindern, Jugendliche, junge, ältere und ganz alte Menschen, Touristen aus fernen und weniger fernen Ländern, Pilger aus dem Inland und Gläubige aus den umliegenden Orten stehen Schlange vor der niedrigen Tür zur Grabkammer des heiligen Naum. Manche in sich gekehrt, manche freudig erregt. Wenn sie dann an der Reihe sind und den kleinen Raum betreten, bekreuzigen sich die meisten von ihnen mehrmals, küssen die Ikone, die das verklärte Antlitz St. Naums zeigt, fallen auf die Knie und streicheln die Grabplatte, unter der der Heilige liegt. Fast alle legen ihr Ohr auf den kalten Stein, denn die Legende sagt, dass sie dann das Herz des hier so Verehrten schlagen hören können.
So intensiv gelebte Frömmigkeit ist dem Mitteleuropäer eher fremd. Trotzdem lässt er sich anstecken von der besonderen Atmosphäre, die von der Grabkammer ausgeht und den gesamten Klosterkomplex im Südwesten Nordmazedoniens durchströmt. Der Mönch Naum hat Ende des neunten Jahrhunderts dieses Kloster gegründet. Er war Schüler der Heiligen Kyrill und Method und wie diese wohl an der Schaffung der kyrillischen Schrift beteiligt. Die Mazedonier behaupten nämlich stolz, dass sie in ihrem Land kreiert wurde. Diesen Anspruch erheben allerdings auch die Bulgaren für sich.
Wer hat’s nun erfunden? Egal. Heute ist das Kloster St. Naum auf alle Fälle ein Kleinod am Ufer des Ohridsees, der zu zwei Dritteln zu Nordmazedonien und zu einem Drittel zu Albanien gehört. Gepflegte Parkanlagen umgeben es, Gartenlokale laden zum Verweilen ein, ein Sandstrand lockt Badegäste und Sonnenanbeter, und hinter dem Kloster fließt der Schwarze Drin, dessen Quellen den Ohridsee speisen und auf dessen stillen Seitenarmen Urlauber in kleinen Ruderbooten durch eine bezaubernde, grüne Lagunenlandschaft schippern. Angesichts dieser Idylle mag man gerne glauben, dass Petrus angeblich einst den an die Himmelspforten klopfenden Sankt Naum gefragt habe, was er hier eigentlich wolle. Er gehöre nicht in dieses Paradies, weil er auf Erden sein eigenes habe.
Tatsächlich ist der rund 30 Kilometer lange und 15 Kilometer breite Ohridsee ein kleines, noch wenig bekanntes Paradies auf dem Balkan und für Touristen eine gute Alternative zur Adriaküste. Er gilt zusammen mit dem Titicacasee als ältester See der Welt. Sein sattes Blau und sein extrem klares Wasser sind auffällig. Zu verdanken hat er dies dem Umstand, dass er fast ausschließlich von Regen- und Quellwasser gespeist wird und deshalb relativ nährstoffarm ist. Es entsteht kaum Plankton, das die Sicht trüben könnte. Und trotzdem lebt darin eine reichhaltige Fauna. Unter anderem die Ohrid-Forelle mit den orangefarbenen Punkten, die gegrillt köstlich schmeckt.
Eingebettet ist dieser See in eine Bergwelt mit über 2000 Meter hohen Gipfeln, die bis ins späte Frühjahr hinein mit Schnee bedeckt sind. In den Wäldern leben Bären und Wölfe, in den Dörfern gastfreundliche Menschen, die an Hochzeiten oder Feiertagen
gerne in ihre bunte Tracht schlüpfen und auf ihren Balkonen im Herbst massenweise Paprika trocknen. Die größte Stadt am Seeufer war auch namensgebend und ist wie die gesamte Region einzigartig. Deshalb zählen Ohrid wie der See selbst und seine Umgebung, zu der auch prähistorische Pfahlbauten und entsprechende Funde in der Knochenbucht gehören, schon seit den späten 1970er-Jahren zum Unesco Weltkulturund naturerbe. Mit diesem Doppeltitel dürfen sich nur 24 Plätze weltweit schmücken.
Es wundert wenig, dass ein kleines Land im Südosten Europas, das jahrelang um seine Unabhängigkeit kämpfen musste und erst im Januar 2019 seinen endgültigen Namen erhielt, Einwohner hat, die auf ihre Nation, besonders aber auf deren Vergangenheit sehr stolz sind. Reisebürobesitzer Vlado gehört dazu, auch wenn er sich mit dem neuen Namen „Nordmazedonien“gar nicht anfreunden mag. „Wo soll denn dann, bitteschön, Südmazedonien sein?“, fragt er und will damit andeuten, dass alle Mazedonier ein Volk sind und deren berühmtester Sohn Alexander, der Große, heißt.
Dabei hat Nordmazedonien, zumindest Ohrid, gar keinen Grund, neidisch hinüber ins nahe Griechenland zu schielen. Kulturdenkmäler gibt es auch in der 60 000-Einwohner-Stadt zuhauf. Zunächst einmal die angeblich 365 (wer zählt schon nach!) Kirchen und Klöster, von denen eine, die Kirche des heiligen Johannes von Kaneo, so malerisch auf einem Felsvorsprung über dem See platziert ist, dass sie als Postkartenmotiv für ganz Nordmazedonien taugt. Das Bild ist auch zu schön: steinerne byzantinisch-orthodoxe Kirche mit achteckigem Turm, flankiert von dunkelgrünen Nadelbäumen, im Hintergrund Berge, davor der tiefblaue See mit zwei kleinen Badestränden.
Doch im Ort gibt es viel bedeutendere Gotteshäuser, denn Ohrid war im Mittelalter eines der wichtigsten Zentren des Christentums. Vielleicht erklärt sich so auch die heute noch tiefe Religiosität der Menschen, die bei jedem Kirchenbesuch Ausdruck findet und so manchen Touristen, der „nur alte Steine gucken will“, verwirrt. Zwischen all den Kirchen und Klöstern hat in der Altstadt von Ohrid auch ein Amphitheater Platz gefunden, und über allem thronen die Ruinen der SamuilFestung. Doch damit nicht genug. Den besonderen Reiz der Altstadt von Ohrid, die sich vom Hafen aus den Hügel hinaufzieht, machen die alten Kaufmannshäuser aus. Verschachtelt stehen die imposanten weiß-braunen Gebäude mit den großen Fenstern am Hang und legen Zeugnis von einer bedeutenden Vergangenheit ab.
Wer genug von historischen Gemäuern und Geschichten hat, findet Abwechslung in der hübschen Fußgängerzone mit den vielen Geschäften, Cafés und Restaurants, an der großzügig angelegten Uferpromenade oder an einem der kleinen Badestrände. Cool, lässig und sehr westlich präsentieren sich die Clubs, die „Cuba Libre“oder „Havanna“heißen und teilweise auf Stelzen in den See gebaut wurden. Tolle Lokalitäten, um einen Ferientag ausklingen zu lassen, gefährlich allerdings für den Welterbetitel. Die Unesco hat den Nordmazedoniern damit gedroht, den Welterbestatus wieder abzuerkennen, sollte nicht schnellstens etwas gegen die vielen illegalen Bauten rund um den See unternommen werden. Vlado zuckt mit den Schultern und sagt: „Bis jetzt ist noch nichts passiert. Die Regierung tut rein gar nichts.“Seine Miene spricht Bände.