Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Verführung im Zauberwald
Die Kunsthalle München stellt erstmals in Deutschland den Fotografen Erwin Olaf vor
MÜNCHEN - Rau ist diese Waldlandschaft und zugleich in sanften Nebel gehüllt. Winzige Figuren sind im Dickicht auszumachen, mal mit Tornister, mal mit Reisetasche – wie Wanderer, die vom Weg abgekommen sind und in Schockstarre versetzt wurden. Man riecht schon den bösen Zauber. Und wären da nicht die gegenwärtigen Alltäglichkeiten wie Smartphones, Plastikflaschen oder Einkaufstrolleys, man könnte leicht auf die Märchenwälder der Gebrüder Grimm kommen, wo hinter jedem Strauch etwas lauert.
Erwin Olaf hat wieder konstruiert, das heißt, mit den Mustern gespielt, die in unseren Gehirnen sitzen. Bei ihm ergibt das fantastische Geschichten, und im Wettersteingebirge nahe Garmisch-Partenkirchen scheint der niederländische Fotograf die ideale Kulisse für seine jüngste Serie gefunden zu haben: die Wucht der Berge und der Wälder, die den Menschen ihre Grenzen aufzeigen und zugleich an die Seelenlandschaften der Romantiker anknüpfen. Die Retrospektive in der Kunsthalle der Hypokulturstiftung München endet mit diesen betörenden, verstörenden Bildern. „Unheimlich schön“lautet entsprechend der Titel dieser Schau.
Doch zunächst irritiert die Tatsache, dass Erwin Olaf in Deutschland kaum bekannt ist. In seiner Heimat gehört er zu den Stars der Kunstszene, und wenn die königliche Familie auf der offiziellen Webseite „holland.com“richtig gut rauskommen will, steht Erwin Olaf hinter der Hasselblad. Mittlerweile ist das eine Ausnahme, allerdings verdeutlicht die royale Charme-Attacke, weshalb man diesem Lichtbildner so leicht auf den Leim geht. Es ist die perfekte Oberfläche, das hochästhetisch Artifizielle – für Sekunden. Dann realisiert man auch schon, dass in der vermeintlichen roten Brosche ein Messer steckt und ein „Sisi“-Zombie (1997) auf seine Todesursache anspielt. Nichts ist so schön, wie es ausschaut. Stattdessen wird das Unvollkommene schön. Oder zumindest in eine Komposition geführt, von der ein mysteriöser Reiz ausgeht.
Den letzten technischen Schliff mag sich der Autodidakt in der Werbebranche angeeignet haben, Shootings für Louis Vuitton und Levis haben ihm seine unabhängige künstlerische Arbeit ermöglicht. Doch der 1959 in Hilversum geborene Erwin Olaf Springveld – so sein eigentlicher Name – will von 08/15-Idealen nichts wissen. Und noch weniger von klassischen Geschlechterrollen.
Bei ihm war Diversität lange schon in Serie gegangen, bevor darüber in der breiten Öffentlichkeit diskutiert wurde. „Jeder Einzelne hat es verdient, gesehen zu werden“, lautet sein Credo. Und er weiß, was das für die „Unsichtbaren“bedeutet. Selbst homosexuell engagierte sich Erwin Olaf bereits in jungen Jahren für Gleichberechtigung und musste dringend provozieren: mit wilden Nachtgestalten und Selbstporträts, meist nackt und in bizarren Posen.
In der Folge „Chessmen“(1987/ 88) ist dieses fast schon manierierte Arrangieren auf einen albtraumhaften Gipfel geführt. Ein behelmter Kleinwüchsiger trägt wie Atlas den Bauch einer Schwangeren auf den Schultern. Ein Beau mit hohen Hacken mutiert durch sein Hirschgeweih zum erotischen Wolpertinger, und das ist noch harmlos. Heinrich Füssli, Hieronymus Bosch und Robert Mapplethorpe feiern hier Hexensabbat. Mindestens.
Dagegen sind die „Ladies Hats“vis-à-vis so schlicht wie humorvoll. Männer tragen Damenhüte, und man muss unwillkürlich an Rembrandt denken, der sich mit den tollsten Barett-Formationen porträtiert hat. Beim ersten Besuch im Amsterdamer Rijksmuseum war es nicht die „Nachtwache“, die den 12-jährigen Erwin faszinierte. Ihm haben sich sofort die Bildnisse des keineswegs attraktiven Malers eingeprägt, der sich so oft konterfeite wie kein anderer Künstler.
Erwin Olafs Werk ist ein Ritt durch die Kunstgeschichte. Das beginnt schon bei den minutiös ausgearbeiteten Details, die an Vermeer und überhaupt an die Niederländer erinnern. Nichts ist dem Zufall überlassen. Weder bei den Akten noch in den virtuos konzipierten InterieurSzenen der „Hope“-Serie (2005) mit einer einsamen Hausfrau oder eigentümlichen Paarkonstellationen. Manches gerät freilich allzu deutlich wie etwa „The Classroom“mit einem ergrauten Lehrer, der vor einer Tafel mit Embryonen-Stadien steht, sich aber seiner pubertierenden Schülerin im kurzen Röckchen zudreht.
Doch das Gros lässt der Fantasie jede Menge Raum. Und oft sind das gefährliche Gratwanderungen, der Abgrund hinter einem hübsch drapierten Vorhang kann tief sein. Sicher ist nur, dass alles an Grenzen stößt. Erwin Olaf hat dafür eindringliche Bilder gefunden, die die Ausstellung in der Kunsthalle eröffnen: Als „Aprilfool“(„Aprilnarr“) mit Clownshut und weißem Gesicht schiebt der Fotokünstler seinen Einkaufswagen über einen leeren Parkplatz und dann durch einen Supermarkt. Das war im Frühjahr 2020. Und während bei den Beatles der „Narr auf dem Hügel“wenigstens dämlich grinsend in den Sonnenuntergang hinein sinnieren darf, sieht der Aprilnarr nur leergehamsterte Regale. Irgendwann steht er desillusioniert vor einer Wand. Feinsinniger kann man den Wahnsinn zwischen Raffgier und Naturausbeutung nicht auf den Punkt bringen.
in der Hypo-Kunsthalle München, Öffnungszeiten: täglich 10-20 Uhr, Katalog (Hatje Cantz Verlag, 240 Seiten) 40 Euro. Weitere Infos unter: www.kunsthalle-muc.de