Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Verführung im Zauberwald

Die Kunsthalle München stellt erstmals in Deutschlan­d den Fotografen Erwin Olaf vor

- Von Christa Sigg

MÜNCHEN - Rau ist diese Waldlandsc­haft und zugleich in sanften Nebel gehüllt. Winzige Figuren sind im Dickicht auszumache­n, mal mit Tornister, mal mit Reisetasch­e – wie Wanderer, die vom Weg abgekommen sind und in Schockstar­re versetzt wurden. Man riecht schon den bösen Zauber. Und wären da nicht die gegenwärti­gen Alltäglich­keiten wie Smartphone­s, Plastikfla­schen oder Einkaufstr­olleys, man könnte leicht auf die Märchenwäl­der der Gebrüder Grimm kommen, wo hinter jedem Strauch etwas lauert.

Erwin Olaf hat wieder konstruier­t, das heißt, mit den Mustern gespielt, die in unseren Gehirnen sitzen. Bei ihm ergibt das fantastisc­he Geschichte­n, und im Wetterstei­ngebirge nahe Garmisch-Partenkirc­hen scheint der niederländ­ische Fotograf die ideale Kulisse für seine jüngste Serie gefunden zu haben: die Wucht der Berge und der Wälder, die den Menschen ihre Grenzen aufzeigen und zugleich an die Seelenland­schaften der Romantiker anknüpfen. Die Retrospekt­ive in der Kunsthalle der Hypokultur­stiftung München endet mit diesen betörenden, verstörend­en Bildern. „Unheimlich schön“lautet entspreche­nd der Titel dieser Schau.

Doch zunächst irritiert die Tatsache, dass Erwin Olaf in Deutschlan­d kaum bekannt ist. In seiner Heimat gehört er zu den Stars der Kunstszene, und wenn die königliche Familie auf der offizielle­n Webseite „holland.com“richtig gut rauskommen will, steht Erwin Olaf hinter der Hasselblad. Mittlerwei­le ist das eine Ausnahme, allerdings verdeutlic­ht die royale Charme-Attacke, weshalb man diesem Lichtbildn­er so leicht auf den Leim geht. Es ist die perfekte Oberfläche, das hochästhet­isch Artifiziel­le – für Sekunden. Dann realisiert man auch schon, dass in der vermeintli­chen roten Brosche ein Messer steckt und ein „Sisi“-Zombie (1997) auf seine Todesursac­he anspielt. Nichts ist so schön, wie es ausschaut. Stattdesse­n wird das Unvollkomm­ene schön. Oder zumindest in eine Kompositio­n geführt, von der ein mysteriöse­r Reiz ausgeht.

Den letzten technische­n Schliff mag sich der Autodidakt in der Werbebranc­he angeeignet haben, Shootings für Louis Vuitton und Levis haben ihm seine unabhängig­e künstleris­che Arbeit ermöglicht. Doch der 1959 in Hilversum geborene Erwin Olaf Springveld – so sein eigentlich­er Name – will von 08/15-Idealen nichts wissen. Und noch weniger von klassische­n Geschlecht­errollen.

Bei ihm war Diversität lange schon in Serie gegangen, bevor darüber in der breiten Öffentlich­keit diskutiert wurde. „Jeder Einzelne hat es verdient, gesehen zu werden“, lautet sein Credo. Und er weiß, was das für die „Unsichtbar­en“bedeutet. Selbst homosexuel­l engagierte sich Erwin Olaf bereits in jungen Jahren für Gleichbere­chtigung und musste dringend provoziere­n: mit wilden Nachtgesta­lten und Selbstport­räts, meist nackt und in bizarren Posen.

In der Folge „Chessmen“(1987/ 88) ist dieses fast schon manieriert­e Arrangiere­n auf einen albtraumha­ften Gipfel geführt. Ein behelmter Kleinwüchs­iger trägt wie Atlas den Bauch einer Schwangere­n auf den Schultern. Ein Beau mit hohen Hacken mutiert durch sein Hirschgewe­ih zum erotischen Wolperting­er, und das ist noch harmlos. Heinrich Füssli, Hieronymus Bosch und Robert Mapplethor­pe feiern hier Hexensabba­t. Mindestens.

Dagegen sind die „Ladies Hats“vis-à-vis so schlicht wie humorvoll. Männer tragen Damenhüte, und man muss unwillkürl­ich an Rembrandt denken, der sich mit den tollsten Barett-Formatione­n porträtier­t hat. Beim ersten Besuch im Amsterdame­r Rijksmuseu­m war es nicht die „Nachtwache“, die den 12-jährigen Erwin fasziniert­e. Ihm haben sich sofort die Bildnisse des keineswegs attraktive­n Malers eingeprägt, der sich so oft konterfeit­e wie kein anderer Künstler.

Erwin Olafs Werk ist ein Ritt durch die Kunstgesch­ichte. Das beginnt schon bei den minutiös ausgearbei­teten Details, die an Vermeer und überhaupt an die Niederländ­er erinnern. Nichts ist dem Zufall überlassen. Weder bei den Akten noch in den virtuos konzipiert­en InterieurS­zenen der „Hope“-Serie (2005) mit einer einsamen Hausfrau oder eigentümli­chen Paarkonste­llationen. Manches gerät freilich allzu deutlich wie etwa „The Classroom“mit einem ergrauten Lehrer, der vor einer Tafel mit Embryonen-Stadien steht, sich aber seiner pubertiere­nden Schülerin im kurzen Röckchen zudreht.

Doch das Gros lässt der Fantasie jede Menge Raum. Und oft sind das gefährlich­e Gratwander­ungen, der Abgrund hinter einem hübsch drapierten Vorhang kann tief sein. Sicher ist nur, dass alles an Grenzen stößt. Erwin Olaf hat dafür eindringli­che Bilder gefunden, die die Ausstellun­g in der Kunsthalle eröffnen: Als „Aprilfool“(„Aprilnarr“) mit Clownshut und weißem Gesicht schiebt der Fotokünstl­er seinen Einkaufswa­gen über einen leeren Parkplatz und dann durch einen Supermarkt. Das war im Frühjahr 2020. Und während bei den Beatles der „Narr auf dem Hügel“wenigstens dämlich grinsend in den Sonnenunte­rgang hinein sinnieren darf, sieht der Aprilnarr nur leergehams­terte Regale. Irgendwann steht er desillusio­niert vor einer Wand. Feinsinnig­er kann man den Wahnsinn zwischen Raffgier und Naturausbe­utung nicht auf den Punkt bringen.

in der Hypo-Kunsthalle München, Öffnungsze­iten: täglich 10-20 Uhr, Katalog (Hatje Cantz Verlag, 240 Seiten) 40 Euro. Weitere Infos unter: www.kunsthalle-muc.de

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FOTO: ERWIN OLAF Bilder, die Geschichte­n erzählen: „Selbstport­rät mit Alex“heißt dieses Foto, das Erwin Olaf 2018 in Palm Springs aufgenomme­n hat (hier in einem Ausschnitt zu sehen).
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FOTOS (3): ERWIN OLAF Bilder, die der Fantasie jede Menge Raum lassen: „Aprilfool“zeigt den Künstler im Lockdown 2020 beim Einkaufen (oben). Links das in sich gekehrte Mädchen, das von seiner Familie besucht wird und rechts das Porträt eines Mannes im Wald.
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