Schwäbische Zeitung (Laupheim)

„Potenzial für Krawalle ist jetzt noch größer“

Stuttgarte­r Sozialarbe­iter über Ausschreit­ungen junger Menschen während der Pandemie

- Von Kara Ballarin

STUTTGART - Mehr als 30 verletzte Polizisten, mehrere Dutzend demolierte Geschäfte und Polizeiaut­os, bislang mehr als 140 ermittelte Randaliere­r und 83 Haftbefehl­e: Die Stuttgarte­r Krawallnac­ht jährt sich am Sonntag zum ersten Mal. Kann sich so etwas wiederhole­n, wenn viele junge Menschen wie derzeit an den Wochenende­n in Ravensburg, Stuttgart und vielen anderen Städten gemeinsam feiern? „Das Potenzial für Krawalle ist jetzt noch größer als vor einem Jahr“, sagt Simon Fregin im Interview. Der 32-jährige Sozialarbe­iter ist Teil des Teams der mobilen Jugendarbe­it in Stuttgart.

Herr Fregin, hat die Stadt richtig auf die Krawallnac­ht reagiert?

Es haben sich sehr schnell Politik, Verwaltung, soziale Arbeit und andere Bereiche wie die Kultur im Strategier­at „Jugendgere­chte Stuttgarte­r Innenstadt“zusammenge­schlossen. Der hat zunächst gefragt: Wie können wir darauf antworten? So gibt es etwa seit 1. November fünf neue Streetwork­er-Stellen. Unser aller Ziel ist es, eine jugendgere­chte Innenstadt zu schaffen.

Am letzten Mai-Wochenende kam es erneut zu Reibereien zwischen Feiernden auf dem Kleinen Schlosspla­tz und der Polizei. Warum?

Das ist immer schwierig zu erklären. Die jungen Menschen wollen nach dem langen Winter mit Lockdown und Ausgangssp­erren etwas erleben, vor allem wollen sie Gemeinscha­ft. Am besagten Wochenende waren die Verbote halb gekippt: Man durfte raus, aber noch nicht so frei, wie man will. Die Polizei hat versucht, Regeln wie Alkoholver­bot und Kontaktbes­chränkunge­n durchzuset­zen. Da kommt Frust auf, der sich in dieser Nacht entladen hat.

Und deshalb fliegen Flaschen?

Langeweile und Frust sind natürlich kein Grund, Flaschen zu werfen. Da gibt es aber ein paar wenige junge Menschen, die direkt hochgehen, wenn man ihnen in so einer aufgeladen­en Situation etwas verbietet. In den Tagen darauf habe ich mit vielen über die Nacht gesprochen. Sie wissen, dass das Mist war. Viele sagten mir, sie verstehen nicht, warum sie mit 30 Leuten in die Klasse gehen sollen, aber nicht mit drei Leuten vor der Schule zusammense­in dürfen. Oder warum sie bis 22 Uhr in der Öffentlich­keit Alkohol trinken dürfen, danach nicht mehr.

Hatten die vergangene­n Wochenende­n das Potenzial, in Krawallen wie vor einem Jahr zu enden?

Damals war die Frustratio­n noch nicht ganz so hoch. Jetzt finde ich die gesellscha­ftlichen Rahmenbedi­ngungen bedenklich­er. Das Potenzial für Krawalle ist jetzt noch größer als vor einem Jahr. Aber viele junge Menschen haben gelernt, dass es Konsequenz­en hat, wenn etwas passiert – dass etwa die Freitreppe am Stuttgarte­r Schlosspla­tz gesperrt wird. Das wollen sie auch nicht. Die Polizei hat ein Stück weit ihre Taktik verändert. Vor der Krawallnac­ht kam sie in großen Gruppen und mit Blaulicht, um Stärke zu demonstrie­ren. Jetzt gibt es Kommunikat­ionsteams, die mit den jungen Menschen sprechen und ihnen die Regeln erklären. Das kann deeskalier­en und helfen, Frust abzubauen. An den letzten Wochenende­n haben wir beobachtet, dass junge Menschen den öffentlich­en Raum zu Clubs machen: Sie tanzen, es gibt Hiphop-FreestyleB­attles. Solche Dinge zuzulassen wirkt positiv, weil die jungen Menschen etwas erleben dürfen.

Wer wird aggressiv und warum? Hat die Polizei recht, wenn sie den typischen Täter der Krawallnac­ht vor einem Jahr so beschreibt: jung, männlich, betrunken, und häufig mit Migrations­hintergrun­d?

Ob sie damals damit recht hatte, wäre zu hinterfrag­en. Es sind nach wie vor viele junge, männliche, manchmal auch angetrunke­ne Menschen. Da 50 Prozent der Stadtbewoh­ner einen Migrations­hintergrun­d haben, spiegelt sich das auch bei den Feiernden wider. Das ist keine gute Erklärung, andere Faktoren sind viel wichtiger. Etwa: Haben sie gelernt, mit Frustratio­n umzugehen? Haben sie ein Umfeld, das dabei hilft? Stimmt das Verhältnis zu Eltern und

Lehrern? Sehen sie eine Zukunft für sich: im Studium, in einer Ausbildung, in einer Beziehung? Diejenigen, die eine Flasche werfen, verbindet ein negatives Zukunftsbi­ld. Dazu kommen andere, die sich von einer explosiven Stimmung mitreißen lassen. Solche Gruppendyn­amik kennt man ja auch aus dem Fußballsta­dion.

Wie können Sie den jungen Menschen helfen?

Zum einen möchte ich sie individuel­l unterstütz­en, ihnen zuhören. Das geht nur unter der Woche. Am Wochenende geht es eher darum, die Masse im Blick zu haben. Unsere Erkenntnis­se diskutiere­n wir dann im Kreis der Integriert­en Jugendarbe­it.

Und was hören Sie?

Seit Februar haben wir 840 junge Menschen angesproch­en. Sehr viele beklagen, dass sie sich übermäßig von der Polizei kontrollie­rt fühlen – das diskutiere­n wir dann mit der Polizei. Am Wochenende sehen wir, dass es kritisch wird, wenn nur noch ganz viele junge, angetrunke­ne Männer unterwegs sind, weil nach Mitternach­t die Frauen, Familien und Älteren weg sind. Hier versuchen wir, mit dem neuen Nachtmanag­er von Stuttgart den öffentlich­en Raum positiv zu beleben – mit Musik, mit Aktionen und Angeboten. So wollen wir der Langeweile und dummen Ideen vorbeugen.

Am Samstag veranstalt­et die Integriert­e Jugendarbe­it einen Aktionstag „Sagt doch was Ihr wollt!“am Eckensee, wo die Krawallnac­ht vor einem Jahr ihren Anfang nahm. Was erhoffen Sie sich davon?

Der Aktionstag ist der öffentlich wirksame Auftakt für unser Ziel, eine jugendgere­chte Innenstadt zu schaffen. Wir laden junge Menschen ein, uns ihre Sicht und Ideen zu schildern und mit Kommunalpo­litikern zu diskutiere­n. Es ist ein Versuch, die Gespräche untereinan­der zu fördern – nicht nur über uns als Vermittler.

Massen an jungen Feiernden machen derzeit vielen Städten Probleme – unter anderem Ravensburg. Lassen sich Erkenntnis­se aus Stuttgart auf andere Kommunen übertragen?

Man muss immer die regionalen Gegebenhei­ten anschauen. Unser Kerngedank­e lässt sich aber überall hin übertragen: Stadt, soziale Arbeit und Zivilgesel­lschaft sollten gemeinsam Lösungen entwickeln. Man braucht Leute vor Ort, die sich trauen, den Kontakt zu den jungen Menschen herzustell­en. Und es braucht Leute in der Verwaltung, die bereit sind, neu und kreativ an die Sache ranzugehen.

Was wünschen Sie sich im Sinne der jungen Menschen?

Wir brauchen alle etwas mehr Lockerheit. Wenn zum Beispiel Müll herumliegt, sollten wir nicht hysterisch reagieren. Wege des gemeinsame­n Nachdenken­s und Zuhörens sollen sich entwickeln dürfen und nicht daran gemessen werden, ob am kommenden Wochenende eine Flasche fliegt. Denn das ist ein guter Weg, um langfristi­g zu einer lebendigen Innenstadt zu kommen, in der Begegnung möglich ist – am besten auch zwischen allen Gruppen.

 ?? FOTO: MARIJAN MURAT/DPA ?? „Jungen Menschen zuhören“– das will Sozialarbe­iter Simon Fregin (links) nicht nur selbst tun, sondern wünscht sich das von der gesamten Gesellscha­ft.
FOTO: MARIJAN MURAT/DPA „Jungen Menschen zuhören“– das will Sozialarbe­iter Simon Fregin (links) nicht nur selbst tun, sondern wünscht sich das von der gesamten Gesellscha­ft.

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