Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Furcht vor neuer Gewaltwelle in der Türkei
Nationalist ermordet junge Mitarbeiterin der prokurdischen HDP in Izmir
ISTANBUL - Deniz Poyraz war für ihre erkrankte Mutter eingesprungen. Im Parteibüro der Kurdenpartei HDP im westtürkischen Izmir wollte sich die 20-jährige Poyraz am Donnerstag um den Tee für die Parteimitarbeiter kümmern. Sie war noch allein im Büro, als ein bewaffneter Mann hereinstürmte, um sich schoss und versuchte, die Parteivertretung mit Gasflaschen in der Küche in die Luft zu sprengen. Als das nicht gelang, erschoss er Poyraz. Jetzt befürchten viele Menschen in der Türkei, dass der Mord der Anfang einer neuen Gewaltwelle war.
Nur aus Zufall blieb Poyraz in Izmir das einzige Opfer: Eine für die Tatzeit angesetzte Versammlung von 40 HDP-Mitarbeitern war kurz zuvor verschoben worden. Wenn noch mehr Parteimitarbeiter da gewesen wären, hätte er auch die getötet, sagte der Täter, der 27-jährige Onur Gencer, laut Medienberichten nach seiner Festnahme im Polizeiverhör. Der Fernsehsender Tele-1 meldete, Gencer
habe sein Opfer nach dem Mord fotografiert und das Foto mit der Unterschrift „Kadaver 1“über den Textdienst WhatsApp verbreitet.
Gencer hatte die Tat über Wochen vorbereitet. Im Mai besorgte er sich legal eine Pistole und spionierte die HDP-Vertretung aus, wie er der Polizei sagte. Sein Opfer tötete er aus Hass auf die Kurdenpartei, die von der Regierung und der Justiz als politischer Arm der Terrororganisation PKK verfolgt wird. Für ihn seien alle HDP-Leute auch PKK-Mitglieder, sagte Gencer aus. Am Tag vor dem Mord soll er auf Instagram über HDP-Mitglieder geschrieben haben, er werde sie „Blut spucken lassen“. Deniz Poyraz wurde ermordet, obwohl sie nichts mit der Gewalt der PKK zu tun hatte.
Für die HDP und andere Oppositionsparteien steht fest, dass der Anschlag nicht die Tat eines Verrückten war, sondern Folge einer Hetzkampagne der Regierung. Gencer hatte als Beamter des Gesundheitsministeriums im vergangenen Jahr einige Monate in der türkisch besetzten syrischen Stadt Afrin gearbeitet und sich dort mit Waffen fotografieren lassen; die türkische Armee hatte 2018 kurdische Milizionäre aus Afrin vertrieben. Auf Bildern in sozialen Medien posierte Gencer mit Waffen und mit der zum „Wolfszeichen“erhobenen rechten Hand. Das Zeichen ist der Gruß der rechtsextremen Partei MHP, der Koalitionspartnerin von Präsident Recep Tayyip Erdogan.
Die HDP hält den Behörden vor, sie hätten die Tat verhindern können, entsprechende Warnungen aber ignoriert. Dreimal habe er mit der Polizei über Drohungen gegen seine Partei gesprochen, sagte der Co-Chef der HDP in Izmir, Abdulkadir Baydur, dem Sender Yol TV. In der Nähe des Gebäudes gebe es einen Kontrollpunkt der Polizei. Dennoch habe Gencer ungehindert den Mord begehen können. Am Tag nach dem Anschlag lobten Nationalisten auf Twitter den Mörder: Das HDP-Büro sei ein „Terrornest“gewesen.
Die Hass-Botschaften spiegeln Aussagen der Regierung wider. Erdogan und MHP-Chef Bahceli stellen die HDP seit Monaten als Partei des Terrors hin, die verboten gehöre. Erdogans Partei AKP und die MHP brachten es nach dem Mord von Izmir nicht fertig, den Angehörigen des Opfers zu kondolieren.
Erdogan will die HDP politisch ausgrenzen und vom Verfassungsgericht verbieten lassen, um seine Chancen bei den nächsten Parlamentsund Präsidentschaftswahlen in zwei Jahren zu verbessern. In den Umfragen liegt die Kurdenpartei bei elf Prozent und nimmt damit eine Schlüsselposition ein: Die HDP sei die „einzige Hoffnung“der Opposition, das Bündnis aus AKP und MHP zu besiegen, schrieb Osman Can, ein ehemaliger Berichterstatter beim türkischen Verfassungsgericht, in einer Analyse für die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik.
Nachdem das Verfassungsgericht einen ersten Verbotsantrag gegen die HDP im Frühjahr zurückwies, reichte die Generalstaatsanwaltschaft in den vergangenen Tagen eine neue Anklageschrift ein, mit dem sich das Gericht an diesem Montag erstmals befassen will. Der Streit um ein Verbot der HDP dürfte sich im Laufe des Prozesses weiter verschärfen.
Noch mehr Gewalt könnte die Folge sein, befürchtet die HDP. Letzten Monat lobte Erdogan eine Gruppe von AKP-Anhängern dafür, dass sie die konservative Oppositionspolitikerin Meral Aksener bei einem Besuch in der Provinz bedrängt hatten. „Das war noch gar nichts“, sagte Erdogan damals. Die HDP-Co-Vorsitzende Pervin Buldan sagte nun, sie frage sich, ob Erdogan damit Gewalttaten wie in Izmir im Sinn gehabt habe. Der Politiker Mustafa Yeneroglu von der konservativen Oppositionspartei DEVA warf der Regierung eine „Lynch-Kultur“vor, unter der alle politischen Gegner von AKP und MHP zu leiden hätten.