Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Hätte die Tat verhindert werden können?
Schussenrieder Bürgermeister kritisiert ungenügende Betreuung des Tatverdächtigen
BAD SCHUSSENRIED - Ein 70-jähriger Bewohner einer Außenwohngruppe des Zentrums für Psychiatrie (ZfP) ist am Samstag in Bad Schussenried tot aufgefunden worden. Der Tatverdächtige, der zusammen mit dem Opfer im Abt-Siard-Haus lebte, hat die Tat gestanden. Nun haben die Staatsanwaltschaft und der Regionaldirektor des ZfP für die Region Donau-Riss, weitere Details bekannt gegeben. Und auch Schussenrieds Bürgermeister Achim Deinet meldet sich zu Wort.
Der 40-jährige Tatverdächtige lebte in der Außenwohngruppe im Abt-Siard-Haus im ambulant betreuten Wohnen. Er hatte dort, ebenso wie das Opfer, ein Zimmer angemietet. „Das bedeutet, dass er wie jeder andere Bürger seine Wohnung selbst gestalten und verlassen konnte“, erklärt Regionaldirektor Christoph Vieten. In der Einrichtung erfolge eine engmaschige Betreuung durch das Personal. Es gebe vier Kontakte täglich. Hinweise auf eine möglicherweise bestehende Gefahr für eine Gewalttat habe es im Vorfeld der Tat nicht gegeben.
Da es sich um eine laufende Ermittlung handelt, machen weder die Staatsanwaltschaft noch das ZfP zurzeit Angaben zur Erkrankung des Tatverdächtigen. Allerdings erklärte Tanja Vobiller, Erste Staatsanwältin der Staatsanwaltschaft Ravensburg, dass nach dem Stand der bisherigen Ermittlungen „dringende Gründe für die Annahme vorhanden“seien, dass der Beschuldigte die Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder im Zustand der verminderten Schuldunfähigkeit begangen habe. Diese Annahme stütze sich auf ein vorläufiges psychiatrisches Kurzgutachten, das bereits am vergangenen Wochenende
ANZEIGEN im Auftrag der Staatsanwaltschaft erstellt worden sei. Deswegen wurde auch von der Staatsanwaltschaft statt eines Haftbefehls ein Unterbringungsbefehl, das heißt die einstweilige Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus, beantragt.
Zur abschließenden Klärung der Frage, ob der Beschuldige die Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit beziehungsweise im Zustand der verminderten Schuldunfähigkeit begangen hat und ob bei ihm die Voraussetzungen für eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 Strafgesetzbuch vorliegen, wurde von der Staatsanwaltschaft ein weiteres ausführliches Gutachten in Auftrag gegeben.
Welche Konsequenzen der Vorfall nun für das ZfP habe, dazu müsse man die Ergebnisse der noch laufenden Ermittlungen abwarten“, sagte Vieten. Auf eigene Initiative habe das ZfP einen zweiten Nachtdienst eingerichtet und der Wachdienst werde vorläufig auch nachts anwesend sein, anstatt wie bisher nur Kontrollgänge zu machen. „Uns ist es wichtig, dadurch die Verunsicherung bei den dort Lebenden und bei unserem Personal wieder zu stabilisieren.“
Bürgermeister Achim Deinet sagte gegenüber der „Schwäbischen Zeitung“, der Vorfall beunruhige die Schussenrieder Bürger und auch ihn ganz persönlich. Sein größter Kritikpunkt: „Die dortigen Bewohner [in der Außenwohngruppe im Abt-Siard-Haus; Anm. d. Red.] haben lediglich noch Mietverträge für das Zimmer, in dem sie früher einen Pflegevertrag mit Betreuung hatten. Das Haus ist nur noch fallweise betreut, während die Bewohner bis vor etwa zwei Jahren dort in ständiger Betreuung waren, einen strukturierten Tagesablauf hatten und so nach unserer Einschätzung auch zumindest in gewissem Umfang ,geführt’ wurden. Bereits damals handelte es sich um eine offene Wohngruppe, sodass die Patienten immer schon in der Stadt unterwegs sein konnten, was deren sozialer Einbindung auch förderlich und zu begrüßen ist und war“, so Deinet.
„Die heute kaum noch vorhandene Betreuung bereitet unseren Bürgern natürlich Sorge, weil eine Verschärfung der Situation schon damals absehbar war. Selbst innerhalb des Pflegepersonals wurde bereits vor der Umstellung der Pflegeverträge auf die AußenwohngruppenSituation gewarnt, weil für die Fachleute bereits absehbar war, dass dies für Patienten, die jahrelang in betreuten Strukturen zu wohnen gewohnt waren, in die Sackgasse führen würde.“
Aktuell würden die Bedenken in der Bevölkerung, aber auch in Stadtverwaltung und Gemeinderat nicht geringer, da befürchtet werde, dass die ZfP-Geschäftsführung die heiß diskutierte Schließung der Demenzstation im Abt-Siard-Haus dazu ausnutzen werde, weitere Außenwohnplätze zu schaffen. „Diese werden zwar bekanntermaßen benötigt – die Frage stellt sich aber, ob dies unbedingt in Bad Schussenried sein muss oder nicht besser in den Herkunftsgemeinden der Patienten. Ich persönlich vertrete die klare Auffassung, dass die Schmerzgrenze in Bad Schussenried zumindest erreicht ist und das ZfP mit seiner Ambulanz deutlich mehr in die Fläche und damit andere Kommunen gehen muss“, stellte Deinet klar.
Für ihn stelle sich die Frage, ob durch eine fortgesetzte Betreuung des Tatverdächtigen, anstelle der Unterbringung in einer Außenwohngruppe,
die Tat nicht hätte verhindert werden können. „Daher sei die Frage erlaubt – auch wenn sie ganz sicher zu massiver öffentlicher Kritik führen wird -, ob Freiheitsrechte einzelner Patienten in jüngerer Vergangenheit eventuell zu Lasten der öffentlichen Sicherheit ausgedehnt wurden?“
In diesem speziellen Fall hätte eine höhere Polizeipräsenz wahrscheinlich nichts geändert. „Es steht aber für mich und die Mehrheit der Schussenrieder Bürger außer Zweifel, dass es in Bad Schussenried einer Verstärkung der Polizeipräsenz bedarf “, so Deinet. „Bisher negieren sowohl der Innenminister als auch die Polizeiführung, dass es eben etwas anderes ist, ob ich mich als Polizist vor Ort mit gesunden Bürgern auseinander zu setzen habe oder eben mit psychisch kranken Bewohnern des ZfP. Der Aufwand ist ein signifikant höherer und da helfen auch die von der Politik gebetsmühlenartig präsentierten, reinen Fallzahlen in der Betrachtung nicht weiter. Wenn man sich die Polizeiberichte ansieht, die unser Ordnungsamt täglich erreichen, so sind zwei Drittel der Einsätze unserer Polizei und Blaulicht-Familie von ZfP-Bewohnern ausgelöst oder verursacht.“
Selbst die seit mehr als zehn Jahren angekündigte Verlagerung des Polizeipostens in die Stadtmitte sei offensichtlich in den Stuttgarter beziehungsweise Ulmer Aktenschränken eingemottet. „Weder Planung noch Umsetzung sind nach unserer Kenntnis einen einzigen Schritt weiter gekommen. Das eigens hierfür teuer vom ZfP erworbene Gebäude steht weiterhin leer und nichts tut sich, außer dass es zwecklos geheizt wird – ein Fall für den Rechnungshof “, kritisiert Schussenrieds Bürgermeister.