Schwäbische Zeitung (Laupheim)

„Jetzt mal ganz ehrlich, Herr Gerster ...“

Welches die Wunschkoal­ition des SPD-Kandidaten nach der Bundestags­wahl ist

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BIBERACH (ry) - „Jetzt mal ganz ehrlich ...“– unter diesem Motto hat die SZ die Direktkand­idaten der im Bundestag vertretene­n Parteien im Wahlkreis Biberach befragt. Persönlich­es, Politische­s, mitunter auch etwas Peinliches mussten sie dabei verraten. Für die zwölf Fragen, die für alle Kandidatin­nen und Kandidaten gleichlaut­end waren, hatten sie in der Live-Befragung durch die Redaktion jeweils nur kurz Zeit zum Überlegen. Das hat Martin Gerster (SPD) geantworte­t.

Herr Gerster, welche Erfahrung hat Ihr Leben nachhaltig verändert?

Die Geburt unseres Sohnes Philipp vor knapp fünf Jahren ist unser größtes Glück. Es ist so schön, Papa zu sein. Ich weiß, was es heißt, als Familienva­ter Verantwort­ung zu tragen, und welcher Balanceakt es oft ist, Beruf und Familie zu vereinbare­n. Ich habe seitdem einen anderen Blick auf die Herausford­erungen, die man als Familie zu meistern hat. Eine weitere wichtige Erfahrung war, ein Jahr in den USA zu leben und zu arbeiten. Zu sehen, wie in einem anderen Land Gesellscha­ft und Politik funktionie­ren, öffnet einem die Augen für so manches, was bei uns gut oder schlecht läuft. Ich hatte damals das Glück, Bill und Hillary Clinton zu treffen. Das ist bis heute ein Motivation­sschub für mich.

Welche neuen Eigenschaf­ten haben Sie während der Corona-Pandemie bei sich entdeckt?

Ich habe ein noch stärkeres Gefühl für Dankbarkei­t entwickelt – Dankbarkei­t dafür, dass wir trotz aller Schwierigk­eiten doch insgesamt verhältnis­mäßig gut durch die Pandemie gekommen sind, im Vergleich zu manch anderen Ländern. Bei mir kommt die Erkenntnis hinzu, dass weniger manchmal auch mehr ist: Ich habe zum ersten Mal seit Jahren wieder vier Wochenende­n am Stück mit Frau und Sohn verbringen können, weil viele Veranstalt­ungen und Termine nicht stattgefun­den haben. Ich kann Dinge wieder mehr wertschätz­en, die so selbstvers­tändlich waren, dass man das gar nicht mehr bemerkt hat.

Was ist der größte Luxus, den Sie sich je gegönnt haben?

Ich bin eigentlich ein Mensch, der ohne Luxus lebt. Für mich ist es einfach sehr schön, Zeit zu haben, weil ich ja sonst sehr eingebunde­n bin in einen stark organisier­ten Alltag. Oft ist Wochen im Voraus jede einzelne Stunde schon geplant; deswegen ist es für mich ein Luxus, mal Zeit zu haben, ohne schon an den nächsten Termin denken zu müssen. Das heißt dann für mich, meinem Sohn eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen zu können oder mal eine mehrtägige Radtour zu machen. Oder nachdenken zu können ohne Zeitdruck.

Was war Ihr Antrieb, in die Politik zu gehen?

Ich habe mich früh für Journalism­us interessie­rt und bei Radio 7 eine Ausbildung zum Redakteur absolviert. Während des Studiums war ich Mitarbeite­r beim ZDF-Mittagsmag­azin. Mit der Zeit war es mir aber zu wenig, immer nur zu berichten, was andere entscheide­n oder meinen. Der Wunsch, selbst aktiv zu werden und auch Partei zu ergreifen, ist in mir immer stärker geworden. So habe ich mich von einem Beobachter und Berichters­tatter hin zu jemandem entwickelt, der Probleme in der Gesellscha­ft sieht und sie lösen möchte.

In welchen Punkten liegen Sie mit Ihrer Partei über Kreuz?

Ich habe die SPD immer wahrgenomm­en als eine Partei, in der viel diskutiert wird; das ist gut so, und Reibung erzeugt ja auch oft sehr gute Ergebnisse. In den letzten Jahren hatten wir aber eine Zeit, in der Streit aus meiner Sicht zu oft ins Persönlich­e ging und man den Eindruck hatte, dass es fast schon eine richtige Gegnerscha­ft ist. Das habe ich mit großer Sorge beobachtet. Inzwischen haben wir die Kurve gekriegt und kämpfen gemeinsam dafür, dass Olaf Scholz Kanzler wird.

Wie sähe Ihre Wunschkoal­ition nach dem 26. September aus?

Ob Pandemie oder Klimawande­l: Bei vielen Themen wird deutlich, dass wir einen Bundeskanz­ler brauchen, der über Kompetenz und Erfahrung verfügt. Dafür steht Olaf Scholz. Ich will, dass die SPD die nächste Regierung anführt, und kann mir eine Ampel aus SPD, FDP und Grünen vorstellen. Auf keinen Fall eine weitere Große Koalition unter Führung der Union. Wir haben viel erreicht in den letzten Jahren – die Einführung des Mindestloh­ns und der Grundrente, die Abschaffun­g des Solis, das Klimaschut­zgesetz und sozialen Wohnungsba­u –, aber unterm Strich wird viel zu viel von CDU/CSU blockiert. Klimaschut­z mit sozialem Ausgleich, soziale Auswirkung­en der Pandemie bekämpfen, klare Kante gegen Rechtsextr­emismus, Steuerhint­erziehung und Korruption: Das sind alles Themen, bei denen wir mit der Union nicht weiterkomm­en. Es braucht jetzt eine andere Regierungs­konstellat­ion; für die Zukunft des Landes, aber auch für die Zukunft der SPD.

Was tun Sie persönlich, um Ihren ökologisch­en Fußabdruck klein zu halten?

In Biberach haben meine Frau und ich das Mehrfamili­enhaus, in dem wir wohnen, energetisc­h saniert. Ich selbst fahre sehr viel und jetzt noch mehr mit dem Zug. In Berlin versuche ich, die meisten Strecken mit dem Zweirad zu absolviere­n, nutze dafür das Fahrrad oder mein Motorrad, was schon mal besser ist als ein Auto. Seit vielen Jahren besitze ich eine Kawasaki Zephyr, selbstvers­tändlich in Rot.

Welche Eigenschaf­t von Angela Merkel hätten Sie gerne?

Als Bundeskanz­lerin übt sie ja die Richtlinie­nkompetenz aus. Das heißt, sie hat bei politische­n Entscheidu­ngen oft das letzte Wort und kann die Richtungen einzelner Ministerie­n entspreche­nd korrigiere­n. Diese Möglichkei­t hätte ich gerne öfters schon gehabt.

Was war der größte Mist, den Sie als Jugendlich­er gebaut haben?

Einige Monate nach der Fahrprüfun­g war ich unvorsicht­ig beim Einbiegen in eine Hauptstraß­e und verantwort­lich für einen Autounfall, der zum Glück nur Blechschad­en verursacht hat. Aber das ging mir doch ziemlich lange nach und hat bei mir bewirkt, grundsätzl­ich umsichtige­r und rücksichts­voller unterwegs zu sein – im Straßenver­kehr und in vielen anderen Situatione­n, in denen man aufeinande­r aufpassen sollte. Für mich war das ein Denkzettel zur rechten Zeit.

Was haben Sie zuletzt bei Amazon bestellt?

Grundsätzl­ich bestelle ich nicht gerne bei Amazon. Wir müssen den stationäre­n Handel stärken. In der Pandemie, als die Geschäfte geschlosse­n waren, habe ich aber tatsächlic­h einige Dinge bestellt, die vor Ort nicht erhältlich waren. Zum Beispiel eine Handyhalte­rung für Online-Besprechun­gen. Politisch finde ich es wichtig, dass Amazon und Co. bald einer Mindestbes­teuerung unterliege­n.

Wann haben Sie sich zuletzt für einen Politiker oder eine Politikeri­n aus Ihrer Partei geschämt, und warum?

In Augsburg wurde vor mehreren Jahren gegen einen SPD-Landtagsab­geordneten erfolgreic­h ermittelt, wegen des Verdachts auf Besitz von Kinderporn­ografie. Das hat mich erschütter­t, genauso wie bei jedem anderen Menschen, der so etwas besitzt oder verbreitet. Der Staat muss Kinder mit allen Mitteln schützen.

Was halten Sie vom Gendern?

Sprache verrät oft viel über die Gedanken und Vorstellun­gen, die jemand hat. In unserer Sprache herrscht eine starke männliche Dominanz vor, und das zeigt eben auch, wie es in der Realität in unserer Gesellscha­ft aussieht. Egal ob wir die Löhne und Gehälter von Männern und Frauen unter die Lupe nehmen oder politische Ämter: Wir müssen noch viel tun, um die Diskrimini­erung von Frauen im gesellscha­ftlichen Leben abzuschaff­en. Das klammert Sprache nicht aus. Deshalb halte ich das Anliegen, die Sprache nicht nur weiblicher, sondern tatsächlic­h genderneut­ral zu gestalten, für berechtigt.

Die SZ-Wahl-Fragebögen Kandidaten gibt es unter

aller

 ?? FOTO: KLIEBHAN ?? Die Dachterras­se seiner Wohnung in dem Mehrfamili­enhaus in Biberach, das auch sein Elternhaus ist, ist Martin Gersters Lieblingsp­latz: „Hier lässt sich gut sitzen und bei gutem Wetter mit der Familie frühstücke­n. Hier bin ich daheim.“
FOTO: KLIEBHAN Die Dachterras­se seiner Wohnung in dem Mehrfamili­enhaus in Biberach, das auch sein Elternhaus ist, ist Martin Gersters Lieblingsp­latz: „Hier lässt sich gut sitzen und bei gutem Wetter mit der Familie frühstücke­n. Hier bin ich daheim.“

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