Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Wahlkampfthema Strom
Um die Klimaziele zu erreichen, muss das Tempo in der Energiepolitik angezogen werden – Wie das gelingen kann
BERLIN - Eins scheint jetzt schon sicher: Die kommende Bundesregierung wird die Klimaziele für 2021 und wahrscheinlich auch 2022 reißen. Um fast 50 Millionen Tonnen könnten die Vorgaben für die Treibhausgas-Emissionen verfehlt werden, wie nicht nur Berechnungen mehrerer Klima-Organisationen, sondern auch des Umweltministeriums zeigen. Nach dem coronabedingten Einbruch der Emissionen würde der Wirtschaftsaufschwung gepaart mit schlechten Verhältnissen für Wind- und Sonnenstrom für den höchsten Anstieg seit 1990 sorgen.
Wer auch immer an die Macht kommt, ist also zu drastischen Einsparungen verdammt. Denn anders als in den vergangenen Jahren ist Klimaschutz kein Kann mehr, sondern ein Muss. Das Klimaschutzgesetz verpflichtet die Regierenden dazu, die Emissionen nach festen Vorgaben zu senken. In den kommenden Jahren um 28 Millionen Tonnen jährlich, ab 2025 sogar um 40 Millionen. Zum Vergleich: Im Schnitt der vergangenen zehn Jahre wurden 28 Millionen CO2 eingespart – das Tempo muss sich also verdoppeln bis verdreifachen.
Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, sei nicht weniger als „das größte Klimaschutz-Sofortprogramm, das es in der Geschichte der Bundesrepublik je gegeben hat“nötig, sagte Patrick Graichen kürzlich dieser Zeitung. Nun hat der Leiter von „Agora Energiewende“gemeinsam mit anderen Denkfabriken Vorschläge gemacht, mit welchen Maßnahmen dieses Ziel erreicht werden könnte.
Die bestehen aus altbekannten Forderungen wie höheren CO2-Preisen beim Heizen und im Verkehr, dem Tempolimit von 130 Stundenkilometern auf Autobahnen, einem Einbauverbot von fossilen Heizungen ab 2024 oder einer Solarpflicht für Neubauten. Im Zentrum der Überlegungen steht allerdings die Energiewirtschaft. So sei zwar keiner der gemachten Vorschläge alternativlos, sagt der Leiter der Stiftung Klimaneutralität, Rainer Baake. Aber „ohne einen schnellen und entschiedenen Umbau des Stromsektors wird es nicht gehen.“
Beim Ökostrom müsse deshalb eine „radikale“Vereinfachung der Genehmigungsverfahren die Weichen dafür stellen, die Strommenge aus erneuerbaren Energien bis 2030 zu verdreifachen. Momentan kann es mehrere Jahre dauern, bis ein Windrad genehmigt wird. Aktuell stehen knapp 30 000 Windräder in Deutschland, die Energiewirtschaft schätzt, dass bis 2030 jährlich 1500 neue Windräder nötig sind. „Ein derart ambitionierter Ausbau in den kommenden zehn Jahren ist in der momentanen Rechtslage nicht realisierbar“, sagt Kerstin Andreae, Hauptgeschäftsführerin beim Energieverband BDEW. Damit ein solcher Zubau gelingen kann, sei es nötig, mehr Fläche für Windräder zur Verfügung zu stellen, Experten gehen von zwei Prozent der Landesfläche aus. Zugleich müsse der Kohleausstieg auf 2030 vorgezogen werden. Dafür solle ein Mindest-CO2-Preis im Energiesektor sorgen, mit dem Kohlekraftwerke unrentabel würden.
Solche Vorschläge wollen jedoch vor allem die beiden Kanzlerkandidaten von SPD und CDU nicht machen. „Wir setzen mit Freiheit und Deregulierung auf die Stärke des Marktes“, heißt es bei der CDU. Ökostrom soll von Bürokratie und Steuern befreit werden, geplant sind außerdem zinslose Darlehen für den Bau von Solaranlagen auf Dächern. Die SPD hingegen, die in den vergangenen vier Jahren mehrfach mit der Forderung nach einem stärkeren Ökostromausbau an der Union abgeprallt ist, stellt den Ausbau von Wind- und Sonnenstrom erneut in den Mittelpunkt ihrer Pläne. So sollen die Zubauziele gesetzlich vorgeschrieben, zugleich Genehmigungen vereinfacht werden. Sowohl SPDKanzlerkandidat Olaf Scholz als auch CDU-Mitbewerber Armin Laschet drücken sich im Wahlkampf allerdings davor, die für Kohleregionen bittere Wahrheit auszusprechen, dass mit einem schnelleren Ökostromausbau und höheren CO2-Preisen, die in Brüssel angepeilt werden, auch der Kohleausstieg wohl früher als wie beschlossen im Jahr 2038 kommen wird.
Das Programm der Grünen hingegen kommt den Vorschlägen der Experten am nächsten: Höhere CO2Preise, ein dadurch vorgezogener Kohleausstieg, eine Solardachpflicht für Neubauten, zwei Prozent der Landesfläche für Windkraft – alles drin. Am radikalsten gibt sich die Linke, die Inlandsflüge einfach verbieten würde und das Land bereits 2035, also zehn Jahre früher als geplant, klimaneutral machen will, was völlig unrealistisch ist.
Das tatsächlich radikalste Konzept verfolgt allerdings die FDP. Sie verzichtet auf Vorgaben und Verbote und setzt voll auf einen entfesselten CO2-Preis, der sich daran ausrichtet, wie viel von dem Gas noch ausgestoßen werden darf. Die Klimaziele würden so zwar wahrscheinlich erreicht. Weil sich Tanken und Heizen jedoch gleichzeitig massiv verteuern würden, halten viele Experten den CO2-Preis als alleiniges Steuerungsmittel für ungeeignet. „Das wird so nicht funktionieren“, sagt Baake. Der Grund: Die Akzeptanz für Klimapolitik wäre bei den Menschen schlicht dahin, würde die Tank- und Heizrechnung explodieren. Da helfe es auch nicht mehr, dass die Bürger die Einnahmen aus dem CO2-Preis an anderer Stelle zurückerstattet bekommen sollen.