Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Mentale Helfer speichern Sorgen und Geheimnisse
Schreiben hilft bei der Verarbeitung von Erlebnissen – Wer kein altmodisches Tagebuch führen will, nutzt entsprechende Apps
Ob der erste Kuss oder die schlechte Mathenote: Das eigene Tagebuch kannte früher alle Geheimnisse. Wer heute alles, was persönlich wichtig ist, schriftlich festhalten will, kann das digital tun – mithilfe von Tagebuch-Apps. In solchen Apps können Ereignisse und Aktivitäten, aber auch Ideen, Stimmungen oder persönliche Ziele erfasst und an einem Ort gespeichert werden. Manche Apps werten am Ende eines Monats oder Jahres sogar den eigenen Stimmungsverlauf in einer Grafik aus. Das kann Spaß machen und als Erinnerungsstütze dienen.
So ein „Lebens-Album“lässt sich auf verschiedene Weise mit verschiedenen Schwerpunkten gestalten. Inzwischen gibt es zahlreiche Tagebuch-Apps, die unterschiedlichen Zwecken dienen. „Es kommt immer darauf an, welche Funktion eine Tagebuch-App erfüllen soll“, erklärt Joachim Grabowski. Er forscht am Institut für Psychologie der Leibniz Universität Hannover zu schriftlicher Sprachproduktion und Schreibprozessen. Beim Führen eines klassischen Tagebuchs gehe es ja nicht nur darum, Informationen aufzubewahren. Es habe eher die Funktion, sich etwas, was einen selber angeht, zu vergegenwärtigen. Eine Art Bestandsaufnahme, ein Innehalten. Man denke über etwas nach, ordne ein, bringe Sachverhalte zusammen, nehme sich Zeit zum Reflektieren. Das hilft beim Verarbeiten von Ereignissen. Ein Vorteil dabei: Schreiben ist langsam. „Das hat ganz einfach mit der Motorik zu tun“, so Grabowski. „Wir schreiben langsamer als wir sprechen“– normalerweise auch am Computer. Das klassische Tagebuchführen sei ein Prozess der Selbstvergewisserung. „Man wählt aus, was relevant ist, festgehalten zu werden – und was nicht“, so der Sprachwissenschaftler. Das dient der inneren Klarheit und damit der seelischen Gesundheit.
„Meiner Meinung nach muss eine App leicht zugänglich sein“, sagt Gregor Pichler. Er ist App-Entwickler, Mobile Computing Spezialist und Lektor an der Fakultät für Informatik, Kommunikation und Medien der Fachhochschule Hagenberg. „Je einfacher und hürdenloser der Anfang des Tagebuchschreibens mit einer App ist, desto besser.“Graphisch ansprechend und einfach aufgebaut müsse sie sein. Zudem dürfe sie keine unnötigen Passwörter erfordern und keinen Druck erzeugen, jeden Tag schreiben zu müssen.
Außerdem sei natürlich gerade bei Tagebuch-Apps das Thema Datensicherheit sehr wichtig. „Die Tagebucheinträge sollten im Idealfall das Gerät nicht verlassen, sondern lokal auf den eigenen Geräten gespeichert und ausgewertet werden“, so Pichler. Wer sichergehen will, dass die Dateneinträge nicht verloren gehen, sollte nach einer App suchen, bei der die Daten optional in einer persönlichen Cloud gespeichert werden können, auf die nur die Nutzer selbst Zugriff haben.
Funktionen, die laut Pichler im Bereich Tagebuch-Apps aktuell interessant sind, sind nicht nur das Hinzufügen von Fotos oder Sprachmemos zu den Einträgen, sondern auch die Integration anderer Tools und Services. Zum Beispiel aus dem Bereich der Musik oder der Vitaldaten. „Für Nutzerinnen und Nutzer, die gar nicht schreiben wollen, wird in Zukunft das Hinzufügen von Songs in Tagebuch-Apps möglich sein“, sagt der App-Entwickler.
„Dass viele Apps tatsächlich ohne den aufwendigen Schreibprozess auskommen, sehe ich als Vorteil“, sagt Grabowski. „Solche hybriden Formate sind meines Erachtens eine positive Errungenschaft der Digitalisierung“, sagt der Sprachwissenschaftler. Anhand von Bildern oder Videos, also von plastischerem Material, könnten Menschen sich eher an etwas erinnern als anhand von Geschriebenem.
Ein Nachteil des Tagebuchführens ohne Schreiben sei laut Grabowski hingegen, dass vieles von dem, was Tagebuch führen eigentlich ausmacht, nicht mehr möglich sei. „Wenn die Bedienung der Apps auf Schnelligkeit und Zweckmäßigkeit
ausgelegt ist, werden Erlebnisse nicht wirklich gedeutet und sprachlich ausgestaltet, sondern es entstehen kleine, punktuelle Berichte oder Dokumentationen.“
Jemand, der die klassische Funktion des Tagebuchführens schätzt, findet so wahrscheinlich keinen Spaß an den Apps. Wer sich Zeit fürs Schreiben nehmen möchte, fühlt sich wahrscheinlich auch bald von der Begrenztheit des Bildschirms gestört. „Wer Einordnungsprozesse machen oder sich sprachlich ausprobieren möchte, wird eher auf ein traditionelles Medium zurückgreifen“, schätzt Grabwoski.
Seit dem Inkrafttreten des Digitale-Versorgung-Gesetzes 2019 können Ärzte ihren Patienten im Übrigen auch bestimmte Gesundheits-Apps verschreiben. Das Gesetz besagt auch, dass die Kosten für die Apps von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen werden müssen. „Das sehe ich als wichtiges Signal – gerade auch, wenn es um mentale Gesundheit geht“, sagt Computerspezialist Pichler. Studien weisen darauf hin, dass das Schreiben über traumatische, belastende oder emotionale Ereignisse nachweislich zu einer Verbesserung der physischen und psychischen Gesundheit führt.