Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Streit um polnischen Grenzwall zu Belarus
EVP-Chef Manfred Weber fordert EU-Finanzhilfen – Seehofer sieht Handlungsbedarf
BERLIN - Noch in seinen letzten Amtstagen lässt den geschäftsführenden Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) die Flüchtlingspolitik nicht los. Zum ersten Mal seit mehreren Jahren sind Anfang der Woche mehr als 1000 Zuwanderer täglich nach Deutschland gekommen. Im Hintergrund des Migrationsgeschehens steht der EU-Streit mit Belarus, dessen Machthaber Alexander Lukaschenko verdächtigt wird, sich mittels Migranten an den Ländern der Europäischen Union zu rächen. Seine Strategie scheint aufzugehen, denn nun streiten Politiker EU-weit über die richtige Reaktion auf das Geschehen an der polnischbelarussischen Grenze. Hier die wichtigsten Hintergründe dazu.
Welche Entwicklung erwartet die deutsche Bundesregierung? Innenminister Horst Seehofer geht davon aus, dass die Zahl der Flüchtlinge wieder stark ansteigen könnte. Wenn die Entwicklung anhalte, werde er mit SPD, Grünen und FDP sprechen, „was wir noch tun können, damit die Zahlen nicht explodieren“, sagte er bei Bild TV. Nach Angaben der Bundespolizei wurden in diesem Jahr, Stand Ende letzter Woche, an der deutsch-polnischen Grenze mehr als 6100 Menschen registriert, die unerlaubt nach Deutschland eingereist sind und über Belarus gekommen waren. Da die meisten Pässe dabei hatten, konnte ihr Weg in die EU gut nachvollzogen werden. Mit Blick auf mehr als 1000 Zuwanderer täglich Anfang der Woche sagte Seehofer: „Wenn Sie das auf den Monat hochrechnen, dann wissen Sie, dass da dringender Handlungsbedarf besteht.“Um die Migranten an der Einreise nach Deutschland zu hindern, wurde bereits der Grenzschutz an der deutsch-polnischen Grenze verstärkt.
Wie wollen die EU und die EULänder auf die verstärkte Zuwanderung reagieren?
Da gibt es recht unterschiedliche Vorstellungen. Polen setzt auf eine massive Grenzverstärkung – Stacheldraht und Sicherheitskräfte – und will noch in diesem Jahr mit dem Bau einer 300 Kilometer langen befestigten Grenzanlage beginnen. Die soll 352 Millionen Euro kosten und mit moderner Technik wie Bewegungsmeldern ausgestattet sein. Umstritten ist, wer diesen Grenzwall finanzieren wird. Während EUKommissionschefin Ursula von der Leyen sich beim Gipfel vergangene Woche gegen neue Grenzmauern ausgesprochen hat, fordert EVP-Fraktionschef Manfred Weber (CSU), die Polen in diesem Vorhaben finanziell zu unterstützen. Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki bekräftigte am Donnerstag in Warschau der Nachrichtenagentur PAP zufolge: Wenn es eine finanzielle Unterstützung aus Brüssel geben sollte, dann werde sein Land diese Mittel annehmen. „Wir sind jedoch nicht abhängig von der EU“, so Morawiecki.
Warum ist das Verhältnis zwischen Warschau und Brüssel derzeit so angespannt?
Die polnische Regierung wurde erst am Mittwoch vom Europäischen Gerichtshof zur Zahlung eines Zwangsgeldes von einer Million Euro am Tag verurteilt, weil sich Polen weigert, Beschlüsse des höchsten europäischen Gerichts umzusetzen. Zudem kündigte von der Leyen an, CoronaHilfen für das Land so lange zu blockieren, bis umstrittene Justizreformen rückgängig gemacht sind. Mit Blick auf die Situation an der Grenze zu Belarus forderte die EU-Innenkommissarin
EU-Flüchtlingspolitik im Praxis-Test
Ylva Johansson Polen in der Zeitung „Die Welt“auf, die Grenzgebiete für die EU-Grenzschutzagentur Frontex zu öffnen. Wegen des Ausnahmezustands, der dort gilt, dürfen auch Medien und Hilfsorganisationen nicht vor Ort sein. Es gebe keine Transparenz darüber, was an der Grenze vor sich gehe, so Johansson.
Wie reagieren Politiker hierzulande auf die Vorgänge an der polnisch-belarussischen Grenze? Über Parteigrenzen hinweg sind sich Politiker einig, dass Lukaschenko die Migranten gezielt einsetzt, um seine außenpolitischen Ziele zu erreichen. Er locke die Menschen „mit falschen Versprechungen gezielt in sein Land und degradiert sie zum Werkzeug seiner Politik“, beurteilt der stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende Thorsten Frei (CDU) die Lage. Er spricht sich zudem dafür aus, auch EU-Mittel für den Bau einer Grenzanlage in Polen einzusetzen. „Wenn die EU so zentrale europäische Errungenschaften wie den Wegfall der Binnengrenzen auf Dauer bewahren will, tut sie gut daran, Polen beim Schutz der Außengrenzen zu unterstützen“, sagte Frei der „Schwäbischen Zeitung“. Eine befestigte Grenze, sei „sicherlich kein Mittel der Wahl, sondern des äußersten Notfalls“.
Gibt es weitere Vorschläge?
Der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck sprach sich vor Kurzem in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“dafür aus, Polen zu unterstützen, indem die Flüchtlinge aus Belarus auf Europa verteilt werden. Diesen Vorschlag nannte Seehofer „putzig“, da er dazu führen würde, dass Lukaschenko noch mehr Flüchtlinge über die Grenze schaffen werde, „um die Stabilität in Europa zu gefährden“. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes NordrheinWestfalen, schlug vor, Kooperationen mit Drittländern wie etwa Moldawien, Ukraine oder Georgien zu prüfen. Diese Länder könnten vorübergehend bei der Versorgung der Migranten mithelfen und im Gegenzug noch enger an die EU herangeführt werden, so Stamp. „Wenn die Migrantinnen und Migranten merken, dass sie gar nicht in die EU kommen, wird das widerliche Spiel des belarussischen Diktators bald beendet sein“, sagte der FDP-Politiker der „Schwäbischen Zeitung“.