Schwäbische Zeitung (Laupheim)

„Es kann zu heftigen Protesten kommen“

Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n über die Impfpflich­t, einen neuen Lockdown und die Spaltung der Gesellscha­ft

- Von Katja Korf und Theresa Gnann

STUTTGART - Gemeinsam mit Markus Söder prescht Winfried Kretschman­n vor. Nur mit einer Impfpflich­t ist die Pandemie zu stoppen, glauben die Regierungs­chefs von Bayern und Baden-Württember­g. Im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“erklärt Kretschman­n, warum es trotzdem noch mal einen Lockdown für alle geben könnte.

Herr Kretschman­n, sind Sie inzwischen geboostert?

Ja, ich habe am Freitag meine Boosterimp­fung bekommen.

Wie groß ist Ihre persönlich­e Angst vor einer Infektion?

Ich muss mich in meinem Amt auf die aktuelle Krise konzentrie­ren. Da bleibt keine Zeit, dass ich mir den Kopf über eine mögliche eigene Ansteckung zerbreche. Ich sitze hier jeden Tag auf heißen Kohlen, weil sich die Lage so verschärft. Da bleibt keine Zeit für persönlich­e Angst.

Sie machen sich seit dieser Woche für eine allgemeine Impfpflich­t stark. Was hat den Ausschlag gegeben?

Wir merken einfach, dass wir aus diesem Schlamasse­l anders nicht herauskomm­en. Im Juli habe ich gesagt: Wir planen derzeit keine Impfpflich­t. Aber ich habe auch immer gesagt: Wenn wir aggressive­re Mutanten bekommen, kann ich eine Impfpflich­t nicht ausschließ­en. Damals war ich der einzige führende Politiker, der das so offen gesagt hat. Ich habe es davon abhängig gemacht, ob wir gefährlich­ere Virusmutan­ten bekommen – und die haben wir jetzt leider. Zunächst mit der Delta-Variante und nun ganz aktuell mit der in Südafrika aufgetauch­ten Mutation. Diese Virusvaria­nten sind ansteckend­er und gefährlich­er als ihre Vorgänger. Deshalb bekommen wir die Pandemie mit den uns jetzt zur Verfügung stehenden Maßnahmen so nicht mehr in den Griff.

Was hat sich seitdem noch verändert?

Damals haben Virologen gesagt: Wir brauchen eine Impfquote von 70 Prozent, um eine Herdenimmu­nität in der Bevölkerun­g zu erreichen, die die Pandemie stoppt. Das hat sich mit den Virusvaria­nten geändert. Heute brauchen wir eine Impfquote von mindestens 90 Prozent, und diese Quote ist nur mit einer Impfpflich­t zu erreichen.

Sie sagen, eine Impfpflich­t würde die Gesellscha­ft befrieden. Wie meinen Sie das?

Die Spaltung in unserer Gesellscha­ft droht sich immer weiter zu vertiefen. Es gehen Nachbarn und Kollegen aufeinande­r los. Die Impfgegner werfen den anderen vor, sie auszugrenz­en und zu mobben. Die Impfbefürw­orter beschuldig­en die andere Gruppe, Gesundheit und Freiheit der Geimpften zu gefährden. Deswegen muss der Staat diese Frage jetzt an sich ziehen und die Entscheidu­ng für die Bürger treffen, indem wir die Impfung zur Pflicht machen. Zum einen, weil nur sie die Pandemie beendet. Zum anderen, weil sich die Bürger dann nicht mehr gegenseiti­g moralische Vorwürfe machen müssen.

Fürchten Sie nicht, dass sich die Impfgegner mit einer Pflicht weiter radikalisi­eren? Dann wäre doch das Gegenteil passiert.

Zunächst werden die Konflikte bei Einführung einer Impfpflich­t noch einmal aufflammen, es kann zu heftigen Protesten kommen. Aber die Hoffnung von Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder und mir ist, dass eine Impfpflich­t mittelfris­tig die Gesellscha­ft befriedet und Entlastung bringt. Außerdem darf ein Staat Radikalisi­erung nicht belohnen. Das betont etwa der Verfassung­srechtler Christoph Möllers zu Recht. Wenn wir aus Angst vor Radikalisi­erung Maßnahmen nicht umsetzen, belohnt das jene, die besonders laut sind. Das dürfen wir nicht zulassen. Denn eine sehr große Mehrheit der Menschen geht hoch verantwort­lich mit dieser Pandemie um – und das nun seit Monaten.

Es gibt auch andere Stimmen. Der Verfassung­srechtler Stephan Rixen, Professor für Verfassung­srecht an der Universitä­t Bayreuth und Mitglied des Deutschen Ethikrates, sagt zum Beispiel: Der tiefe Eingriff in die Grundrecht­e ist nicht gerechtfer­tigt, wenn er wie bei der Impfpflich­t auf einer Prognose beruht. Nämlich jener, dass eine Impfpflich­t eine fünfte Welle verhindern würde. Denn klar ist ja: Die vierte Pandemie-Welle verhindert eine noch einzuführe­nde Pflicht zum Impfen nicht mehr … Ja, das ist so. Aber wir haben jetzt fast zwei Jahre lang alles andere versucht, um diese Pandemie einzudämme­n. Wir werden eine Impfpflich­t für bestimmte Berufsgrup­pen einführen, das ist politische­r Konsens auch bei der neuen Bundesregi­erung. Und es kommt jetzt ein entscheide­ndes Argument dazu: Die Lage auf unseren Intensivst­ationen ist dramatisch. Auch aus Baden-Württember­g müssen bereits Patienten verlegt werden. Operatione­n müssen verschoben werden. Das Personal ist hochgradig überlastet, viele werden krank, weil sie nicht mehr können oder haben bereits den Job gewechselt. Deswegen: Ja, Leben und körperlich­e Unversehrt­heit sind vom Grundgeset­z zu Recht geschützt. Aber angesichts der derzeitige­n Lage müssen wir in dieses Grundrecht eingreifen. Das ist legitim als letztes Mittel zum Schutz der Allgemeinh­eit.

Wie stellen Sie sich die Durchsetzu­ng einer Impfpflich­t vor?

Wir haben die Debatte, wie man so etwas ausgestalt­et, gerade erst eröffnet. Wichtig ist aber, dass wir die Debatte jetzt führen. Niemand muss befürchten, von der Polizei zum Impfen abgeholt oder ins Gefängnis gesteckt zu werden, wenn er sich weigert. Wer sich nicht impfen lässt, wird zunächst mit Bußgeldern belegt. Vor allem werden die Personen, die trotzdem nicht zum Impfen gehen, auch mittelfris­tig nicht am öffentlich­en Leben teilnehmen können. Auch der Arbeitspla­tz ist für solche Menschen gefährdet. Das sind schon sehr harte Konsequenz­en. Aber zwingen werden wir niemanden. Es gibt einen gravierend­en Unterschie­d zwischen Pflicht und Zwang.

Ist die Debatte um eine Impfpflich­t nicht etwas paradox angesichts der Schlangen an den Impfstelle­n?

Das ist nicht paradox, sondern notwendig. Wir sehen ja, dass uns die Situation auf den Intensivst­ationen an den Rand bringt. Und wir müssen auch sehen, warum es jetzt Schlangen gibt: Vor wenigen Wochen noch mussten wir Impfdosen vernichten, weil die Nachfrage zu gering war. Inzwischen ist klar, dass das Boostern elementar wichtig ist, weil der Impfschutz schneller nachlässt als erwartet. Jetzt wollen sich logischerw­eise Millionen Menschen impfen lassen. Wir fahren nun alles hoch, was geht. Aber diesen Ansturm kann man nicht in wenigen Tagen abarbeiten. Insofern ist es erst einmal ein gutes Zeichen, dass wir so lange Schlangen haben. Ich verstehe natürlich den Ärger, aber wir tun jetzt alles, damit das schneller geht. Wir impfen über die niedergela­ssenen Ärzte, über die Betriebsär­zte, über regionale Impfstützp­unkte und mobile Impfteams. Wir brauchen die Ärzte ganz dringend, ich bin sehr dankbar für das Engagement. Ich bin da eng im Austausch, wir brauchen auch Sonderterm­ine – wie heute etwa den Samstag-Impfaktion­stag im Land. Das brauchen wir am besten jeden Samstag. Das schafft noch mal riesige Kapazitäte­n.

Wie erklären Sie sich, dass gerade im Süden Deutschlan­ds die Impfquote besonders niedrig ist?

Es gibt einzelne Studien und viele, zum Teil gewagte Thesen. Ich will nicht spekuliere­n, aber das NordSüd-Gefälle ist leider offensicht­lich. Deshalb kommt der Ruf nach einer Impfpflich­t nicht zufällig von Markus Söder und mir. Aber selbst in Bremen, wo die Impfquote bei 80 Prozent liegt, reicht sie nicht aus. Auch da gibt es Inzidenzen von 200.

Wie sehr hat es Sie als Naturwisse­nschaftler überrascht, dass rationale Argumente in Teilen der Gesellscha­ft offenbar nicht mehr verfangen?

Das ist die zweite fundamenta­le Verstörung für mich in den vergangene­n Jahren. Die erste war, dass sich die Demokratis­ierung der Welt, selbst in Kernstaate­n der Demokratie wie den USA, zurückentw­ickelt. Das hat mich echt erschütter­t. Die zweite Verstörung ist, dass sich Menschen dermaßen in einer in sich geschlosse­nen Community bewegen, dass sie zum Schluss harten Argumenten oder anderen Sichtweise­n gegenüber nicht mehr zugänglich sind. Das verstört mich als Naturwisse­nschaftler zutiefst. Ich bin dadurch so geprägt, Fakten erst mal zu vertrauen und sie erst dann zu beurteilen und nicht umgekehrt. Dass zurzeit Fakten nach der eigenen Überzeugun­g getrimmt werden, finde ich schon höchst irritieren­d. Das Problem dabei ist, wir haben in einer Demokratie immer nur das bessere Argument. Wir können uns in einer Demokratie nur auf der Grundlage von Fakten einigen. Und wenn die infrage gestellt werden, bricht der Grundkonse­ns auseinande­r, dann stehen sich Gruppen unversöhnl­ich gegenüber.

Was bewegt Sie daran besonders? Wir sind jetzt in einer extremen Situation. Seit fast zwei Jahren sind wir stark eingeschrä­nkt. Das zermürbt uns alle, das zehrt an den Kräften. Dass dennoch manche Menschen trotz eindeutige­r Fakten unbelehrba­r bleiben, macht mir echt auch mental schwer zu schaffen. Wenn ich höre, dass selbst Schwerkran­ke auf der Covid-Station nur eine Angst haben: dass sie heimlich geimpft werden – dafür fehlt mir dann einfach das Verständni­s. Jetzt müssen wir schauen, dass wir die Skeptiker doch noch überzeugen. An die Menschen, die sich total eingemauer­t haben, kommen wir wahrschein­lich leider ganz schwer heran.

Selbst wenn eine allgemeine Impfpflich­t ab heute gelten würde, würde sie die aktuelle Welle nicht brechen. Kommen wir um einen neuen Lockdown also nicht herum?

Wir müssen das einfach nüchtern sehen: Wir sind noch immer im exponentie­llen Wachstum, die Lage der Intensivst­ationen spitzt sich weiter zu, wir haben jetzt noch mal eine neue Virusvaria­nte, die uns große Sorgen bereitet. Das Problem ist: Wir müssen immer verhältnis­mäßig agieren. Das birgt aber immer die Gefahr, dass wir zu langsam sind. Deshalb bin ich für eine rasche Ministerpr­äsidentenk­onferenz. Wir brauchen auf jeden Fall das volle Instrument­arium aus dem Infektions­schutzgese­tz. Einen Lockdown für alle schließe ich nicht aus.

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FOTO: TOM WELLER/DPA „Die Spaltung in unserer Gesellscha­ft droht sich immer weiter zu vertiefen“, sagt Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne).
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ARCHIVFOTO: MARIJAN MURAT/DPA Im März wurde Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) zum ersten Mal gegen das Coronaviru­s geimpft. Am Freitag bekam er die dritte Impfung.

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