Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Verkehrte Welt
Arte-Dokumentation über die Flüchtlingshelferin Sara Mardini wird am Mittwochabend gezeigt
Es ist nie ein Verbrechen, Menschen vor dem Ertrinken zu retten!“Das sagt Sara Mardini immer wieder, auf zig Podien, vor zig Mikrofonen. Was ist das für eine Gesellschaft, in der man solche Grundzüge der Mitmenschlichkeit offenbar wieder und wieder erklären muss?
Mardinis Antwort darauf ist klar: Es ist eine Gesellschaft, die sich längst daran gewöhnt hat, dass vor ihren Toren jährlich Tausende Menschen sterben: 24.000 Geflüchtete seien seit dem Jahr 2014 auf dem Mittelmeer ertrunken oder verschollen. Eine Gesellschaft also, die angesichts dieses Leids nicht nur ihre Augen und Herzen verschließt, sondern sogar noch jene kriminalisiert, die eben das nicht können oder wollen: die Seenotretter.
Der Dokumentarfilm „Gegen den Strom – Sara Mardinis Einsatz für die Menschlichkeit“, den Arte am Mittwochabend ausstrahlt, porträtiert die syrische Profischwimmerin, die 2015 zusammen mit ihrer Schwester Yusra aus Damaskus f loh. Auf der Überfahrt nach Lesbos retteten sie 18
Mitreisenden das Leben, indem sie das Schlauchboot, dessen Motor ausgefallen war, stundenlang schwimmend durchs Wasser zogen.
Später kehrte Sara, die Asyl in Deutschland erhalten hatte, nach Griechenland zurück, um anderen Gef lüchteten zu helfen. 2018 wurden sie und ihr Kollege Sean Binder von den griechischen Behörden festgenommen. Die Vorwürfe: Menschenschmuggel, Spionage, Geldwäsche und Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung.
106 Tage verbrachten die beiden in Untersuchungshaft, ehe sie auf Kaution frei kamen. Und seitdem kämpfen sie für einen Freispruch. Beziehungsweise: Warten. Denn die griechischen Gerichte lassen sich Zeit. Was für die Angeklagten extrem zermürbend ist, ihre jungen Leben in den Wartestand versetzt, berufliche Perspektiven zerstört. Ende 2021 wird endlich ein Verfahren angesetzt — und gleich wieder vertagt. Kurz nach dieser neuerlichen Enttäuschung endet der auch auf der Bildebene starke, sensible und fesselnde Film der Regisseurin Charly W. Feldman.
Sara Mardini kämpft für mehr Menschlichkeit.
Im Januar 2023 kam es schließlich zu einer Verhandlung, bei der die Anschuldigungen teils fallen gelassen wurden. Der Vorwurf des Menschenschmuggels aber besteht weiter; Mardini und Binder warten aktuell auf einen zweiten Prozess. Aus Sicht vieler ein „unglaublicher Justizskandal“, der zumindest in Bezug auf Lesbos wohl auch erreicht, was er soll: andere abzuschrecken, sich in der Flüchtlingshilfe zu engagieren. Sara, die in diesem intensiven Porträt als zerrissene, ihren Platz im Leben suchende Person gezeigt wird, ist schwer gezeichnet. Im Lauf der vier Jahre, die sie vom Filmteam begleitet wird, hat sie mit Depressionen und einer posttraumatischen Belastungsstörung zu kämpfen, ist häufig verzweifelt, unausgelastet, nervös.
Und doch wirkt sie stark: „Gegen den Strom“zeigt nicht nur erschütternde Bilder von Rettungsaktionen und sogenannten PushBacks, also dem Zurückdrängen von Flüchtlingsbooten, sondern auch Aussagen von Politikern. Zum Beispiel vom früheren deutschen Innenminister Horst Seehofer, der sagte, er wolle erst einmal für Ordnung sorgen und sich danach „diesem Thema der Humanität“zuwenden.
Sara zeigt sich aber auch sehr, sehr oft wütend. Eine — man kann es nach diesen beeindruckenden und oft fassungslos zurücklassenden 90 Minuten nicht anders sagen – absolut nachvollziehbare Reaktion auf eine oft völlig verkehrte Welt. (KNA)
„Gegen den Strom – Sara Mardinis Einsatz für die Menschlichkeit“, Regie: Charly W. Feldman. Arte, Mi., 21.06., 21.55 Uhr.