Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Alles eine Frage der Haltung
Model, Choreograf, TV-Promi: Jorge González über die Frage, was der Laufsteg mit dem Leben zu tun hat
- Jorge González vermutet Leutkirch wohl nahe am Südpol. Deshalb tänzelt der Laufstegtrainer zum traditionellen „Talk im Bock“auf Schlittschuh-High-Heels. Im Salsa-Seitschritt und mit wackelndem Hintern betritt er die Bühne, 20 Minuten über der Zeit. Die Verspätung sei eine Premiere in 13 Jahren, bemerkt Moderator Raimund Haser. Die 600 vor allem jungen Zuschauer bejubeln den Paradiesvogel im schwarzen Gehrock trotzdem stürmisch.
Einer Diva gleich, weiß der 47Jährige das Publikum hinter sich, noch bevor er sein „Hola chicas y chicos“, „Hallo Mädchen und Jungs“, in den Raum geworfen hat. Mit dieser Begrüßung ist der gebürtige Kubaner 2009 berühmt geworden, als ihn Ex-Model Heidi Klum als Laufsteg-Trainer zur TV-Show „Germany’s next Topmodel“geholt hatte.
„Hauptproblem ist Holzkreuz“
Jorge González über Haltungsprobleme
Schrill und überdreht gab er sich da, aber auch sehr herzlich und offen. Den „fleischgewordenen Stöckelschuh“nannte ihn die Frankfurter Allgemeine Zeitung und attestierte ihm, der „heimliche Star“des Formats zu sein. Sein Sprachkauderwelsch ist sein Markenzeichen („Sag nix, nur denk!“oder „Hauptproblem ist Holzkreuz“). Dabei kann sich der Wahl-Hamburger fließend in spanisch, tschechisch, französisch, italienisch, englisch und deutsch unterhalten.
Der Mann ist inzwischen seine eigene Marke. Er arbeitet als Stylist, Model, Künstleragent, Choreograf, Imageberater und Designer. Seit 2013 sitzt er in der Jury der TV-Show „Let’s Dance“. Und nicht zuletzt ist Jorge González Laufstegtrainer bei seiner eigenen Chicas Walk Academy. Dort bringt er Mädchen nicht nur den richtigen Gang bei, sondern auch die richtige Einstellung. „Ich sage immer, so wie ihr auf dem Catwalk geht, so geht ihr auch durchs Leben.“Das habe mit Körperhaltung, Ausdruck und Rhythmusgefühl zu tun.
Er meint es spürbar gut mit den Mädels, als er an diesem trüben Februarnachmittag in einer Leutkircher Yogaschule 30 Damen und zwei mutigen Herren Nachhilfe in Sachen Auftreten gibt. 60 Euro haben die Interessierten zwischen 14 und 64 Jahren für dieses Training bezahlt. Das Geld geht ebenso wie die abendliche Sammlung im Festsaal an die Hamburger Benefizaktion „Kicker mit Herz“, die kranke Kinder unterstützt. 2800 Euro kommen zusammen.
Mit breitem Grinsen begrüßt Jorge González auf seinen 20 Zentimeter hohen Hacken die Schar. Seine Präsenz füllt den Raum sofort. Das hat etwas mit Ausstrahlung zu tun, mit seinem Temperament und der Fröhlichkeit. Sogar das ZDF hat es seinetwegen in die oberschwäbische Provinz verschlagen. Die Herzen fliegen ihm in dieser Übungsstunde zu, jeder will am Schluss ein Bild mit ihm. Er erträgt es geduldig und freundlich.
Diplomierter Nuklearökologe
Beim abendlichen Talk geht es ernster zu. González erzählt von seiner sehr glücklichen Kindheit in einer Großfamilie in der Industriestadt Jatibonico in Mittelkuba. Früh entdeckte er die Liebe zum Ballett – und seine Homosexualität. „Sein zweites Ich“nennt er die. Das wurde von den Frauen in seiner Familie toleriert, deren High Heels er trug und die er frisierte und schminkte. Sein Vater hätte lieber einen Boxer als eine Ballerina gehabt und verweigerte ihm die Unterschrift für die Ballettschule. „Kuba ist das Land der Machos. Es war damals schlimmer, einen homosexuellen Sohn zu haben, als einen kriminellen“, erzählt er.
Klein Jorge Alexis entschied sich für „Plan B“. Der hieß: Ein hervorragender Schüler zu werden und mit einem Stipendium im sozialistischen Ausland zu studieren. Er wurde Jahrgangsbester im Internat. Weil seine Großmutter für den Schriftsteller Franz Kafka und Prag schwärmte, fiel seine Wahl auf die Tschechoslowakei. In Bratislava wurde der neue Studiengang „Nuklearökologie“angeboten, der sich mit den Folgen von Radioaktivität auf die Umwelt befasste. 1985 verließ der 17-Jährige Kuba in Richtung Europa.
1991 machte Jorge González sein Diplom. Inzwischen war der Atomreaktor in Tschernobyl in die Luft ge- Jorge González über seine Jugend auf Kuba flogen und der Ostblock zusammengebrochen. Aus der Tschechoslowakei wurde kapitalistisches Feindesland, das die kubanischen Studenten schnellstens zu verlassen hatten. Doch der Student hatte längst Freunde aus aller Welt gefunden, modelte nebenher, war Kernkraftgegner und verdiente Geld mit einem Werbespot für den Erzfeind Coca Cola. Das blieb den kommunistischen Genossen zuhause nicht verborgen. Drei Monate lang, so schreibt González in seiner Biografie „Hola Chicas!“, sei er von Agenten beschattet worden und hielt sich versteckt. Eine Rückkehr nach Kuba kam nicht infrage, und so wurde er zum politischen Flüchtling.
Seine Liebe zu Deutschland habe er in New York entdeckt. Dort habe er ein Bild von den schneebedeckten Alpen, Garmisch-Partenkirchen und Menschen in Lederhosen und Dirndl gesehen und beschlossen: Da muss ich hin. Seit vielen Jahren wohnt der Mann mit den 350 Paar High Heels im Schuhschrank mit seinem Freund in Hamburg und ist seit 2011 eingebürgert. Hier könne er ganz nach seiner Facon leben und glücklich sein. „Deutschland“, sagt er unter dem Beifall der Zuhörer, „ist das toleranteste Land, das ich kenne.“
„Es war schlimmer, einen homosexuellen Sohn zu haben, als einen kriminellen“