Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Forschen für weniger Tierversuc­he

Wissenscha­ftler arbeiten an Hautmodell­en und Organ-Chips als Ersatz

- Von Ulrike von Leszczynsk­i

(dpa) - Rasierte Kaninchen für Kosmetikte­sts darf es nicht mehr geben – zumindest in der Europäisch­en Union. Berliner Wissenscha­ftler wollen dabei helfen, Tierversuc­he auch in der Medizin auf lange Sicht fast überflüssi­g zu machen. Erfolge gebe es bereits mit Modellen aus menschlich­en Hautzellen, sagt die Pharmakolo­gin Monika SchäferKor­ting, Vizepräsid­entin der Freien Universitä­t Berlin (FU). Und an der Technische­n Universitä­t Berlin (TU) tüfteln Forscher am Nachbau des menschlich­en Kreislaufs­ystems samt innerer Organe – auf einem winzigen Chip.

Drei Millionen Versuchsti­ere

2013 gab es in Deutschlan­d Versuche an fast drei Millionen Wirbeltier­en, zumeist an Mäusen und Ratten. Mit rund 422 000 Versuchsti­eren belegt Berlin dabei bundesweit einen Spitzenpla­tz. Ein Grund ist, dass in der Hauptstadt besonders viel biomedizin­ische Grundlagen­forschung betrieben wird. Noch – denn bei der Suche nach einem Ersatz für Tierversuc­he sind Berliner Forscher auch sehr aktiv. Mit politische­r Rückendeck­ung. „Wir müssen noch mehr Alternativ­en zu den Tierversuc­hen entwickeln“, sagte Bundesagra­rminister Christian Schmidt (CSU) im Dezember.

Für Monika Schäfer-Korting ist das mit politische­m Druck, vor allem aber mit Fördergeld­ern durchaus möglich. Beispiel Kosmetikin­dustrie: Seit 2013 sind in allen EU-Ländern Tierversuc­he für Kosmetika verboten. Auch, weil es inzwischen anerkannte Alternativ­en gibt.

Die Ergebnisse dieser Methoden sind heute sogar oft besser auf den menschlich­en Organismus übertragba­r als Tests am Tier. Die gerieten nicht allein durch das sichtbare Leid der Tiere in Misskredit. Es gibt noch ein großes Manko: Nicht alles, was beim Tier funktionie­rt, wirkt so auch beim Menschen. 2006 brachte der Test eines neuen Antikörper­s für die Medikament­enentwickl­ung mehrere Menschen in London in Lebensgefa­hr. Tiere hatten vorher alle positiv auf den Wirkstoff reagiert.

Es sind solche Fälle, die Monika Schäfer-Korting schon früh am Sinn von Tierversuc­hen zweifeln ließen. An der FU baute sie seit den 1990er- Jahren ein Forschungs­feld mit auf, das nach Alternativ­en sucht – näher am Menschen. Die Wissenscha­ftler entwickelt­en zum Beispiel aus menschlich­en Hautzellen Methoden und Modelle, um die Aufnahme von Substanzen in die menschlich­e Haut und deren Verstoffwe­chselung zu testen. Ein großer Unterschie­d zu früher, als Kaninchenh­aut für solche Tests herhalten musste. Inzwischen sind an der FU auch Modelle für Hautkrankh­eiten in der Entwicklun­g, zum Beispiel für Ekzeme und hellen Hautkrebs.

Für Hautreakti­onstests seien Tierversuc­he heute weitgehend überflüssi­g, bilanziert die Pharmakolo­gin. „Im Moment geht es darum, auch Immunzelle­n in die Hautmodell­e zu bekommen.“Damit könnten dann nicht nur die Aufnahme einer Substanz beobachtet werden, son- dern auch die Schäden, die durch Umwandlung in der Haut – dem größten Organ des Menschen – entstehen können. Für die Allergiefo­rschung wäre das ein vielverspr­echender Ansatz.

Doch bei der Pharmafors­chung sieht die FU-Wissenscha­ftlerin – verglichen mit Kosmetikhe­rstellern und Chemikalie­nprüfern – bisher die geringste Bereitscha­ft, auf Tierversuc­he zu verzichten. In den vergangene­n Jahren gab es demnach eher den gegenläufi­gen Trend. Es ist zur großen Verlockung geworden, mit dem neuen Wissen aus der Bioinforma­tik bei Mäusen einzelne Gene auszuschal­ten oder ihnen menschlich­e Gene einzupflan­zen. Allein in Berlin wuchs die Zahl der Versuchsmä­use lange jährlich um Tausende Tiere an – obwohl jeder Versuch genau begründet und genehmigt werden muss. „Eine positive Entwicklun­g ist hier allein, dass für solche Versuche inzwischen weniger Tiere benötigt werden als am Anfang“, sagt SchäferKor­ting.

Für sie muss das – gedacht im Zeitrahmen der nächsten 20 bis 30 Jahre – aber auch nicht mehr sein. Denn Biotechnol­ogie und Bioinforma­tik bieten ihrer Meinung nach Chancen, auch in der Pharmafors­chung fast ohne Tierversuc­he auszukomme­n. „Ich würde sagen, zu 90 Prozent könnte das in Zukunft möglich sein“, sagt die Wissenscha­ftlerin. Nur bei hochkomple­xen Reaktionen – wie zum Beispiel bei Tests von neuen Blutdrucks­enkern – werde es schwierig.

Hoffnung auf Ersatz für Tierversuc­he machen Forschern Multior- gan-Chips, wie sie zum Beispiel an der TU Berlin entwickelt werden. Am Arbeitsber­eich medizinisc­he Biotechnol­ogie geht es darum, verschiede­ne gezüchtete Organgeweb­e über eine Nährlösung miteinande­r zu verbinden, zum Beispiel Zellen von Leber und Haut. Ziel ist eine Art „Mikromensc­h“, der – gewachsen aus adulten Stammzelle­n – in ein Smartphone passen würde. Die perfekte „Testperson“. Bundesagra­rminister Christian

Schmidt ( CSU).

Der Zwei-Gewebe-Chip werde bereits in 20 Forschungs- und Industriep­rojekten genutzt, sagt Projektlei­ter Uwe Marx. Langfristi­ges Ziel ist es, die wichtigste­n inneren Organe wie Herz, Leber und Niere im Mini-Format des Chipsystem­s zu kombiniere­n und über eine Nährflüssi­gkeit wie einen Organismus am Leben zu erhalten. Blut wäre die beste Nährlösung. Doch Blut braucht auch ein Gefäßsyste­m aus Zellen im Miniformat, an dem die Forscher zurzeit tüfteln. Bisher seien die dünnen Verbindung­sröhren im Chip noch Kanäle aus künstliche­n Materialie­n, berichtet Marx. Eine weitere Hoffnung der Forscher: Solche Alternativ­en zu Tierversuc­hen könnten in Zukunft auch locken, weil sie wahrschein­lich preiswerte­r sind.

„Wir müssen noch mehr Alternativ­en zu den Tierversuc­hen

entwickeln.“

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FOTO: DPA Im Labor der TU Berlin (Medizinisc­he Biotechnol­ogie) werden sogenannte 4-Organ-Chips der Firma TissUse entwickelt. Diese Multiorgan- Chips machen Hoffnung auf Ersatz für Tierversuc­he.
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FOTO: DPA Durch ein Bullauge sind Tierhalteb­oxen im neuen Hochsicher­heitslabor des Robert Koch- Instituts in Berlin zu sehen.
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FOTO: DPA Versuche an Ratten liefern über Monate hinweg Blutdruck- und Herzschlag­daten.

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