Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Polen demonstrieren für die Unabhängigkeit der Justiz
Zehntausende fordern Präsident Andrzej Duda in Warschau auf, sein Veto gegen die Aushebelung des Rechtsstaates einzulegen
- Bevor der polnische Senat am Freitag über die umstrittene Justizreform debattiert, versuchen Zehntausende Polen in den frühen Morgenstunden, den Präsidenten Andrzej Duda von seiner Zustimmung abzuhalten. Seine Unterschrift ist dafür noch notwendig. Für Anna, Tomek und ihre Freunde ist es ihre erste Demonstration. Kurz vor Mitternacht skandieren sie vor dem hell erleuchteten Präsidentenpalast in Warschau: „Wir wollen ein Veto!“und „Freie Gerichte!“
Alle fünf studieren Jura. Anna will einmal Richterin werden. Zusammen mit Zehntausenden Polen versucht sie im letzten Moment, die Gleichschaltung der Justiz zu verhindern. Innerhalb weniger Tage hatte die nationalpopulistische Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) mit ihrer absoluten Mehrheit im Parlament ein Gesetzespaket durchgewunken, mit dem Polens bislang unabhängige Richter dem PiS-geführten Justizministerium unterstellt werden, so wie zuvor auch schon die Staatsanwälte.
„Der Präsident ist auch Jurist. Er hat in Krakau studiert“, sagt Anna verzweifelt. Sie hat Tränen in den Augen. „Nur er kann mit einem Veto die Katastrophe noch aufhalten. Aber auch er ist ja ein PiS-Mann.“Wie fast alle Demonstranten – das Warschauer Rathaus schätzt die Zahl auf rund 50 000 – streckt sie den Arm mit der weiß-flackernden Grabeskerze in den tiefschwarzen Himmel und ruft: „Freiheit! Freiheit!“Tomek schwenkt eine große EU-Fahne. „Wir haben uns bisher nicht für Politik interessiert“, schreit er gegen den Lärm an. „Jetzt bekommen wir dafür die Rechnung. Wie soll ich jemanden verteidigen, wenn das Urteil vom Parteibuch abhängt?“
Der 24-Jährige will Rechtsanwalt werden. „Der normale Bürger wird keine Chance mehr auf einen fairen Prozess haben. Es wird nur noch PiSStaatsanwälte und PiS-Richter geben. Das ist das Ende!“Er schüttelt den Kopf, schwenkt wieder die Fahne und umarmt seine Freundin Anna: „Wenn der Präsident kein Veto einlegt, wandern wir aus. Wir haben noch unser ganzes Leben vor uns!“
Eine ältere Dame, die neben ihnen steht und ebenfalls eine weiß-flackernde Trauerkerze in der Hand hält, nickt. „Ich bin Polin“, sagt sie resolut und zieht die grüne Baseballkappe über den weißen Stoppelhaaren herausfordernd in den Nacken. „Ich habe schon einmal für Polens Freiheit gekämpft. In den 1970er- und 1980er-Jahren. Heute würde ich den Jungen sagen: „Geht! Verlasst Polen. Meinen Segen habt ihr!“Anna und Tomek schauen sie zweifelnd an. „Ja, ja“, sagt die 73-Jährige und zeigt auf die Bühne. „Wladyslaw Frasyniuk hat schon in der Volksrepublik für seinen Widerstand im Gefängnis gesessen. Er und wir – wir werden das wieder in Ordnung bringen! Und dann könnt ihr zurückkommen.“
In die Menge gerät Bewegung. Polizisten bahnen sich den Weg nach vorne zum Präsidentenpalast. Dort ruft der berühmte Bürgerrechtler aus Wroclaw (Breslau) den Demonstranten zu: „Wir müssen die Gerichte verteidigen. Wir müssen die Richter verteidigen. Und deswegen werden wir jetzt – jetzt sofort – zum Obersten Gericht marschieren.“Das Mikro trägt seine Stimme über die gesamte Vorstadtstraße. „Und ab morgen werden wir jeden Tag diese Institution des Rechts verteidigen. Wir alle, alle Staatsbürger Polens, werden ab morgen den Rechtsstaat vor den Gerichten im ganzen Land verteidigen!“
Kampf für die EU
Auf den Treppenstufen einer Kneipe sitzen Andrzej und seine Frau Izabella. Er ist Bankangestellter, sie Krankenschwester, beide Mitte 30. „Woher dieser Mann seine Energie nimmt! Das ist unglaublich“, sagt Andrzej, starrt auf die hell erleuchtete Bühne. Izabella hält die weiß-rote polnische und die blaue EU-Fahne umklammert. Es ist kurz vor Mitternacht. „Wir wollen nicht aus der EU gedrängt werden“, wiederholt sie einen Satz, der an diesem Abend immer wieder durch die Straßen Warschaus schallt. „Bloß kein Polexit!“Andrzej wischt sich den Schweiß von der Stirn: „Wir sind immer noch zu wenig. Wenn die PiS auch die nächsten Wahlen gewinnt, was dann?“
Am Freitagabend stimmt Präsident Duda schließlich einem Gespräch mit der Ersten Vorsitzenden des Obersten Gerichts für Montag zu.