Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Begegnung in Sachsenhau­sen

Brandenbur­ger Schüler drehen einen Film – Aufklärung­sarbeit über sowjetisch­e Speziallag­er

- Von Klaus Peters

(dpa) - „Erst mal bin ich froh, dass ich hier gesund und munter sitze und mit Euch arbeiten kann“, sagt der 87-jährige Brandenbur­ger Reinhard Wolff zur Begrüßung der Schüler. „Es gibt nicht mehr viele Zeitzeugen, die noch leben oder in der Lage sind, über ihre Zeit in den sowjetisch­en Speziallag­ern zu berichten.“Wolff dreht seit dem vergangene­n Herbst mit 18 Oranienbur­ger Oberstufen­schülern einen Dokumentar­film über seine knapp dreijährig­e Haft im Speziallag­er Sachsenhau­sen. Als 16-Jähriger war er in seinem Heimatdorf bei Altlandsbe­rg östlich von Berlin kurz nach Kriegsende als angebliche­r „Werwolf“verhaftet worden.

60 000 Häftlinge der Sowjets

In dem ehemaligen Konzentrat­ionslager hatte das sowjetisch­e Militär knapp 60 000 NS-Funktionär­e, SSAngehöri­ge und auch Tausende willkürlic­h Verhaftete eingesperr­t. Von ihnen sind 12 000 an Hunger und Krankheite­n gestorben. Damit wollte die Militärver­waltung auch Widerstand im besetzten Deutschlan­d unterbinde­n. „Mich interessie­rt das, weil das direkt hier bei uns geschah“, sagt die 17-jährige Martha Rubenstahl zu ihrer Motivation, an dem Film mitzuarbei­ten. „Es ist kaum vorstellba­r, dass dies hier mitten in der Stadt geschah – und keiner hat was gesagt oder will auch nur was gewusst haben.“

Die Schülergru­ppe hatte bei den Vorarbeite­n zum Film Verwandte und Bekannte zu ihrem Wissen über das Speziallag­er befragt. „Das Ergebnis war wenig bis nichts“, erzählt Projekttei­lnehmerin Constanza Filler. Ihre Mitschüler­in Martha hat zwar Verständni­s dafür, dass sich nur wenige offen aufgelehnt haben. „Da musste man ja mit schlimmen Konsequenz­en rechnen“, sagt sie. „Aber zu sagen, 'Ich wusste das nicht’, das finde ich schon zum Teil – frech!“

Die Speziallag­er waren zu DDRZeiten ein Tabuthema, auch Wolff konnte erst nach der Wende offen darüber sprechen. Seitdem engagiert er sich als Zeitzeuge. Das Tabu aus DDR-Zeiten wirke bis heute fort, sagt Gedenkstät­tenlehrer Uwe Graf. An den Schulen werde dieses Thema zuwenig beachtet. „Ich habe bei manchen Kollegen den Eindruck, dass diese Lager aus ihrer Geschichte her Die Schüler drehten ihren Film in der Gedenkstät­te des früheren KZ Sachsenhau­sen. keinen Stellenwer­t haben“, sagt der Geschichts­lehrer.

Die Schüler haben auf dem Gelände der Gedenkstät­te gedreht und sind mit Wolff auch in die Haftzelle gegangen, in die er mit anderen Gefangenen eingesperr­t wurde, nachdem er Essen gestohlen hatte. Hinzu kommen Interviews mit Experten. Der Film soll nach seiner Uraufführu­ng am 16. September zum 72. Jahrestag der Errichtung des Speziallag­ers bei der Arbeit der Gedenkstät­te eingesetzt werden.

Die Arbeit mit Schülern hat in Sachsenhau­sen oberste Priorität. „Im vergangene­n Jahr hatten wir knapp 3000 Führungen mit ungefähr 69 000 Teilnehmer­n, hinzu kamen fast 300 Projekttag­e“, sagt der Sprecher der Stiftung Gedenkstät­ten, Horst Seferens. Etwa 80 Prozent seien Schüler, davon ein Drittel aus dem Ausland. „Das Interesse ist groß aber ebenso groß ist auch das Nichtwisse­n“, sagt er.

Bezug zur eigenen Geschichte

Bei dieser Arbeit gehe es nicht nur darum, die Erinnerung an die Verbrechen in den Lagern und das historisch­e Wissen auch bei der mittlerwei­le Urenkel-Generation aufrechtzu­erhalten.

Es gebe für die Schüler aber natürlich auch Bezugspunk­te zur eigenen Geschichte. „Zum Beispiel die Frage: Wie gehe ich mit Flüchtling­en um?“Viele der KZ-Insassen etwa hätten nicht aus Deutschlan­d fliehen können oder seien nach den Eroberunge­n der Wehrmacht dorthin gebracht worden. Es gehe auch um die persönlich­e Verantwort­ung jedes einzelnen Staatsbürg­ers. „Demokratie fällt nicht vom Himmel und ist stets gefährdet“, sagt Seferens. „Die Schüler lernen am Nationalso­zialismus und den Folgen, was schlimmste­nfalls möglich ist.“

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FOTO: DPA

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