Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Türkische Opposition streitet über Meinungsfreiheit
Zeitung „Cumhuriyet“entlässt Kolumnistin wegen ihrer abweichenden Ansichten – Andere Blätter werfen Kollegen Intoleranz vor
ISTANBUL - Der Chefredakteur ist im Exil, sein Nachfolger sitzt hinter Gittern, ein Dutzend führende Redakteure stehen vor Gericht – doch die türkische Oppositionszeitung „Cumhuriyet“hat nichts besseres zu tun, als eine Kolumnistin wegen ihrer Ansichten zu feuern. Nun fallen die verbliebenen Journalisten der türkischen Oppositionspresse übereinander her.
Die regierungsnahe Presse, bei der das Feuern missliebiger Kolumnisten zum Alltag gehört, lacht sich ins Fäustchen über den Krach, werden die Kollegen doch ihre Kritik an solchen Praktiken künftig sparsamer dosieren müssen. Der Streit wirft ein Schlaglicht auf den Zustand der türkischen Opposition, die nicht nur zerstritten ist, sondern auch Probleme mit der Meinungsfreiheit hat. Im Kreuzfeuer steht Nuray Mert, eine streitbare Kolumnistin von 57 Jahren, die wegen ihrer nonkonformistischen Ansichten schon früher bei führenden Zeitungen angeeckt war. Zu „Cumhuriyet“wurde sie vor zwei Jahren vom damaligen Chefredakteur Can Dündar geholt, der das Blatt zum Sturmgeschütz der Demokratie machen wollte - und nach Haft, Anklage und Attentatsversuch heute im Exil in Berlin lebt.
Ausdrücklich suchte Dündar damals die Meinungsvielfalt, für die Mert mit ihren originellen Einsichten stand. Doch Meinungsvielfalt ist bei „Cumhuriyet“nicht mehr gefragt.
Ein Kommentar zu einem Gesetzentwurf zur Eheschließung wurde Mert zum Verhängnis. Mit dem Gesetz will die Regierung hohen Beamten der Religionsbehörde die Kompetenz geben, rechtlich gültige Ehen nach dem Zivilgesetzbuch zu schließen – bisher war das Standesbeamten vorbehalten. Von der säkularen Opposition wird das Vorhaben als Freibrief für Kinder- und Vielehen angegriffen. Nuray Mert argumentierte dagegen, dass die Legalisierung der ohnehin verbreiteten religiösen Ehen die Rechte der solchermaßen verheirateten Frauen stärken könne, die bisher rechtlos sind.
Das war zu viel für „Cumhuriyet“, zumal Mert sich zuvor schon von der Aufregung über die Entfernung der Evolutionslehre aus den türkischen Lehrplänen distanziert hatte. Die Kolumnistin habe die „redaktionelle Linie“der Zeitung verlassen, teilte der Vorstandsvorsitzende Orhan Erinc mit. Ausdrücklich wies Erinc darauf hin, dass die Entlassung mit der inhaftierten Redaktionsleitung abgesprochen sei: Die wegen ihrer politischen Meinung eingesperrten Journalisten von „Cumhuriyet“billigten also aus dem Gefängnis heraus die Entlassung einer Kollegin wegen deren Ansichten.
Das habe sie besonders verletzt, sagte Nuray Mert, deren Worte nun von einer anderen Zeitung veröffentlicht wurden. „Wir kritisieren immer die Intoleranz der Regierungspartei, aber leider ist die Opposition mindestens ebenso intolerant.“In der Oppositionspresse brach wegen des Falles Mert unterdessen ein Hauen und Stechen aus. Hasan Cemal, der Vorsitzende der Pressefreiheitsplattform P24, verurteilte die Entlassung als Eigentor. Dagegen stellte sich die „Cumhuriyet“-Journalistin Nilgün Cerrahoglu hinter die Entscheidung: Wenn Mert geglaubt habe, die „rote Linie“des Laizismus überschreiten zu können, dann habe sie sich getäuscht, schrieb sie.