Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Zwei Level höher
Alexander Zverev schlägt Roger Federer glatt und spielt dabei „das beste Tennis meines Lebens“
MONTREAL (SID/dpa) - Boris Becker hat sein Urteil unwiderruflich gefällt. „Die Zukunft hat begonnen“, twitterte er nach den 68 Finalminuten von Montréal staatstragend. Alexander Zverev selbst nahm seinen beeindruckenden Triumph beim Masters in Kanada und den zweiten Turniersieg binnen acht Tagen irgendwie gelassener. Die Erfolge des 20-Jährigen haben im Spätsommer 2017 etwas Selbstverständliches bekommen. Selbst wenn der Gegner im Finale eines sogenannten 1000er-Turniers Roger Federer heißt, ist für Zverev seit dieser Saison längst alles möglich. Nach dem 6:3, 6:4 gegen den großen Schweizer saß er mit zerzausten Haaren in der Pressekonferenz – und neckte die Journalisten. „Du solltest dich rasieren, Kumpel!“, rief er einem älteren Reporter mit nicht mehr ganz so hippem Schnauzbart zu.
Diesen flapsigen Rat hätte Zverev auch Federer, dem Australian-Openund Wimbledon-Champion 2017, geben können; der Schweizer trug bei seiner erst dritten Niederlage in diesem Jahr nämlich einen Dreitagebart. Vermutlich wäre Federer aber wenig zum Scherzen aufgelegt gewesen, denn der Major-Rekordchampion wirkte gegen den 16 Jahre jüngeren Zverev körperlich angeschlagen, kam oft zu spät und schwächelte beim Aufschlag. Die Art und Weise, wie der neue Weltranglistensiebte Zverev diese Schwächen nutzte, beeindruckte dennoch. Auch Federer: „Ich freue mich, dass er sein Tennis nicht nur auf das nächste Level gebracht, sondern um zwei Level angehoben hat.“Die Zusammenarbeit mit dem neuen Coach Juan Carlos Ferrero fruchtet offenbar, Zverevs Reifeprozess hat auf sämtlichen Ebenen eine erstaunliche Dynamik bekommen.
„So selbstverständlich“
„Ich fühle mich derzeit großartig und habe das Gefühl, dass ich das beste Tennis meines Lebens spiele. Alles passiert so selbstverständlich“, sagte Zverev nach seinem fünften Turniersieg in dieser Saison: „Ich bin super glücklich darüber, wie ich spiele und was für ein Selbstvertrauen ich habe.“
Die Erfolge bei den bislang sechs Masters 2017 teilen sich Federer, Rafael Nadal (Spanien) und Zverev mit jeweils zwei auf. Bezeichnend, dass der Hamburger auch im „Race to London“, der Jahreswertung, Platz drei hinter den beiden Superstars belegt und langsam für die inoffizielle WM der besten acht Profis in London (12. bis 19. November) planen kann. „Die Teilnahme dort ist eines meiner größten Ziele“, erklärte Zverev.
Auf Augenhöhe mit dem Duo oder mit Branchenführer Andy Murray und Novak Djokovic sieht sich Zverev trotz seiner Leistungsexplosion aber keineswegs. „Ich denke nicht, dass ich ein Teil der ,Big 4‘ bin. Sie haben schon so viele Grand Slams gewonnen“, sagte er – wohl wissend, dass er bei den US Open (von 28. August an) als einer der Titelanwärter gilt.
Auch Roger Federer traut dem jungen Aufsteiger noch einiges zu: „Ich hoffe, er kann die Form halten, denn jetzt gibt es noch einige Gelegenheiten für ihn.“Zum Beispiel in Flushing Meadows; dort könnte Zverev vom Fehlen der verletzten Novak Djokovic und Titelverteidiger Stan Wawrinka profitieren. Auch Andy Murray ist angeschlagen. Bislang ist Zverev bei einem Major allerdings noch nie über das Achtelfinale hinausgekommen.
Den Unterschied ausmachen soll diesmal der neue Coach Ferrero. „Sascha wollte auch deshalb mit mir zusammenarbeiten, weil ich weiß, wie man an die Spitze kommt und Grand Slams gewinnt“, sagte der Spanier, der zusammen mit Zverevs Vater Alexander senior, Fitnesscoach Jez Green und Physio Hugo Gravil das „Team Sascha“bildet.
Und irgendwie würde es passen, wenn Zverev ausgerechnet beim Glamour-Slam in New York der Durchbruch auf der ganz großen Bühne gelänge. Das Marketingkonzept seines Managers Patricio Apey ist global ausgerichtet, der Markt in den USA beziehungsweise in Asien wichtiger als der europäische. Die Zukunft hat begonnen, „NextGen“-Zverev war gestern.
Wer wollte einem Boris Becker da widersprechen?