Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Alles Ansichtssache
Wie die Lebenssituation den Blick auf die Verhältnisse bestimmt
Gerechtigkeit hat viele Facetten. Für den einen steht eine möglichst gleiche Verteilung der Einkommen im Mittelpunkt, für den anderen die Chancengleichheit, für den dritten ein guter Ausgleich der Lasten zwischen Jung und Alt. Wie unterschiedlich die Sichtweisen dabei sein können, zeigt diese fiktive Befragung.
Kleinkind, eineinhalb Jahre alt
Manchmal muss ich husten. An den Schmutz in der Luft haben sich meine Lungen noch nicht gewöhnt. Schuhe mag ich nicht. Ich habe gerade erst laufen gelernt und barfuß kann ich besser üben. Aber meine Eltern wollen das nicht. Sie haben Angst, dass ich mich verletze. Auf den Wegen liegt viel zu viel Müll. Meine Eltern wollen nur das Beste für mich und sie machen sich große Sorgen. Wenn ich erwachsen bin, wird es manche Tierund Pflanzenarten nicht mehr geben. Der Meeresspiegel wird deutlich gestiegen sein, weil die Gletscher schmelzen. Und an manchen Tagen werden die Behörden es der Bevölkerung verbieten, nach draußen zu gehen, weil die schlechte Luft den Menschen den Atem raubt. Von all dem weiß ich noch nichts. Doch ich ahne, dass die Welt nicht nur Gutes für mich bereithält.
Schülerin, 15 Jahre alt
Am liebsten würde ich die Schule wechseln. In meiner Klasse bin ich die Einzige, die weder Klavierunterricht hat noch zum Frankreich-Austausch mitfahren wird. Auch das neueste iPhone-Modell können mir meine Eltern nicht kaufen. Seit mein Vater arbeitslos ist, müssen wir auf jeden Cent achten. Das ist nicht fair. Ich bin nicht die Beste in meiner Klasse, aber auch nicht dumm. Trotzdem sagt mein Lehrer, dass ich mich für eine Ausbildung zur Verkäuferin bewerben soll. Ich will aber studieren. Am liebsten Medizin. Das wird richtig teuer, behauptet mein Lehrer. Na und?, denke ich. Hat in diesem Land nicht jeder eine Chance verdient?
Berufsanfänger, 22 Jahre alt
Mit meinem Bachelor-Abschluss in BWL habe ich nicht lange nach einem Job gesucht. Die Arbeit macht Spaß, die Kollegen sind nett. Mehr Geld wäre schön. Knapp die Hälfte meines Gehalts gehen für Sozialabgaben und Steuern drauf. Miete, Essen, Versicherungen muss ich bezahlen. Ab und an will ich feiern gehen, mir Klamotten kaufen. Ein Auto kann ich mir deshalb nicht leisten. Ich war gut in der Schule und meinen UniAbschluss habe ich mit Auszeichnung bestanden. Viel Zeit für ein entspanntes Studium hatte ich nicht. Die Woche war voll mit Seminaren, Lernen und Nebenjob. Mein neuer Chef hat mir einen Halbjahresvertrag angeboten, mit der Möglichkeit ein Jahr zu verlängern. Und dann? Mein Vater arbeitet seit 30 Jahren in derselben Firma und hat Karriere gemacht. Die Zeiten sind wohl vorbei.
Ein Ehepaar, beide etwa 40 Jahre alt, zwei Kinder
Der Wecker klingelt um 5.30 Uhr. Aufstehen, Frühstück machen für die Kinder. Kurz nach halb acht Uhr müssen alle los. Der Neunjährige radelt zur Schule im Nachbarort, der Vierjährige wird in die Kita gebracht, dann hetzen wir ins Büro. Spätestens um 9 Uhr will der Chef uns beide bei der Arbeit sehen. Da zwei Erzieher krank sind, schließt die Kita heute bereits um 15 Uhr. Ich mache also früher Schluss, obwohl das dem Chef nicht passt. Aber mein Mann muss diese Woche Überstunden machen. Keiner von uns kann im Job reduzieren. Das Geld brauchen wir, um Kredite abzuzahlen. Ist das gerecht? Unser Leben ist durchgetaktet, an manchen Tagen stehe ich kurz vor dem Burn-out. Wir hätten gern mehr Zeit für die Kinder. Familienleben habe ich mir anders vorgestellt.
Babyboomerin, 53 Jahre alt
Meine Altersgruppe wird oft zum Sündenbock gemacht, weil wir angeblich das Sozialsystem ruinieren, wenn wir in gut zehn Jahren als geburtenstärkster Jahrgang alle Rentner werden. Dabei ist diese Sichtweise ungerecht. Wir sind es, die heute am meisten Steuern und Sozialabgaben bezahlen. Damit finanzieren wir eine Rentnergeneration, der es so gut geht wie keiner zuvor und wohl auch danach. Denn unsere Renten werden in vielen Fällen Armutsrenten sein. Wir haben mit unserer Lebensleistung den Grundstein dafür gelegt, dass Deutschland auch im digitalen Zeitalter seinen Wohlstand erhalten kann und unsere Kids gut ausgebildet werden. Wir zahlen viel ein und bekommen wenig wieder heraus.
Rentner, 73 Jahre alt
Immer wieder meckern die Leute über uns angeblich so wohlhabenden Rentner. Dabei ist meine Rente gar nicht hoch. 1396,35 Euro im Monat nach 45 Jahren Arbeit zum Durchschnittsverdienst. Als ich die erste Stelle antrat, waren die Kriegsfolgen noch überall sichtbar. Meine Generation hat das Land wiederaufgebaut und die Grundlagen für den Wohlstand der Jüngeren gelegt. Nebenbei haben wir gespart und geben dieses Vermögen an unsere Kinder und Enkel weiter. Ich habe drei Kinder großgezogen, die heute mit ihrer Arbeit dafür sorgen, dass es auch der übernächsten Generation noch gut geht.
Pflegebedürftige, 90 Jahre alt
Meine Kinder kümmern sich um mich, so gut es geht. Ich sehe auch, wie sehr sie das belastet. Sie müssen arbeiten, die Enkel betreuen und mir bei vielen Dingen helfen. Aber ich kann ja nichts dafür. Da musste ich früher bei meinen Eltern auch durch. Hier in der Pflegestation tut auch das Personal, was es kann. Aber sie haben zu wenig Zeit und werden schlecht bezahlt für einen Knochenjob. Es wäre gerechter, wenn mehr Geld für die Pflege bereitgestellt werden würde. Dann müssten meine Kinder weniger helfen und mir ginge es besser.