Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Ein Stadtführer namens Heinrich Böll
Der Schriftsteller zeigte seinen Gästen vor allem die romanischen Kirchen Kölns
KÖLN (dpa) - Vor 100 Jahren wurde Heinrich Böll in Köln geboren. Er erlebte die Stadt in drei Formen: als Metropole vor dem Krieg, im Zustand der Zerstörung und dann wiederaufgebaut.
Wenn auswärtige Freunde Böll in seiner Heimatstadt Köln besuchten, dann erwartete sie ein straffes Besichtigungsprogramm. Man kann es als Köln-Tourist bis heute wiederholen – allerdings braucht man dafür Durchhaltevermögen. Der Schriftsteller führte seine Gäste zunächst in die romanischen Kirchen. Er zeigte ihnen St. Maria im Kapitol, St. Georg, St. Severin, St. Gereon und St. Ursula. Schweren Herzens verzichtete er auf die restlichen sieben, vorerst jedenfalls. Der heutige Besucher sollte St. Gereon auf keinen Fall auslassen: Diese Basilika war im Mittelalter der größte Kuppelbau nördlich der Alpen. Eine Insel der Stille ist St. Maria, eine der ältesten Kirchen Deutschlands – Böll mochte sie besonders. Anschließend ging es zum ausgegrabenen römischen Statthalterpalast, dann erst war der Dom dran. Es folgten zwei Museen: Römisch-Germanisches und Wallraf-Richartz. Kurze Erholung gefällig? Dann bitte zum Rhein.
Während des Spaziergangs am Fluss referierte Böll in seiner tiefen Kettenraucher-Stimme über Köln als Brückenstadt. In Anbetracht der nahen Altstadt-Restaurants hielt er es nun für angebracht, einen Imbiss einzunehmen – oder weitere romanische Kirchen zu besichtigen.
Der russische Dissident Lew Kopelew hat einmal beschrieben, wie er und seine Frau 1980 schon am ersten Tag nach ihrer Ankunft in Köln von Böll auf die Kirchentour mitgenommen wurden. Der Literaturnobelpreisträger ging damals nach einer Operation an Krücken, aber das hielt ihn nicht davon ab, zu den ersten Christengräbern in die Krypta von St. Severin hinunterzusteigen.
Heinrich Böll hat fast sein ganzes Leben in Köln verbracht. Und doch war es so, als hätte er in drei verschiedenen Städten gelebt: im Vorkriegs-Köln, im zerstörten Köln und im Nachkriegs-Köln. Das Haus in der Südstadt, in dem er am 21. Dezember 1917 geboren wurde, steht noch (Ecke Teutoburger/Alteburger Straße), gekennzeichnet durch eine Inschrift in der gläsernen Eingangstür. Die umliegenden Straßen laden ein zum Flanieren. Bis heute kann man hier dem Köln des Kaiserreichs nachspüren.
Glück in der Trümmerwüste
Böll kannte auch noch das unzerstörte Zentrum mit seinen Gassen und Giebeln. Kölns Altstadt zählte zu den größten in Deutschland. Der Heumarkt galt zeitweise als schönster Platz Europas und wurde in einem Atemzug mit dem Markusplatz genannt. Einen Eindruck davon bekommt man heute nur noch im Martinsviertel, dem kleinen Bezirk zwischen Alter Markt, Heumarkt und Rhein. Die schönsten Gassen sind Auf dem Rothenberg und Buttermarkt.
Das zweite Köln erlebte Böll, als er im September 1945 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrte. Die Stadt war stärker bombardiert worden als Dresden. Der englische Dichter Stephen Spender schilderte im Sommer 1945: „Der Rhein mit all seinen zerstörten Brücken bot am Tag, als ich über die Ponton-Brücke fuhr, ein Bild von erschreckender Erhabenheit. Da waren schwarze Wolken, zwischen denen immer wieder glasklar der Himmel zu sehen war. Lichtbündel fielen auf den Dom, der, nur leicht beschädigt, wie ein abgenutzter gotischer Wandteppich aussieht, mit Löchern im Dach, durch die man die Gewebestruktur erkennen kann. Man sieht, dass es eine großartige Stadt war und immer noch ist.“Mit etwas Fantasie kann man sich dieses Bild heute noch vor Augen rufen, wenn man vom neuen Rheinboulevard am Deutzer Ufer aus zur anderen Seite blickt.
Köln ist noch immer keine Stadt, die von Hochhäusern dominiert wird – die berühmte Silhouette steht unter Schutz. Deshalb bilden der Dom und die weit darunter liegenden Türme der romanischen Kirchen und des Rathauses noch immer ein mittelalterliches Panorama, auch wenn fast alles andere im Bombenhagel unterging.
Böll war übrigens nicht damit einverstanden, dass der Dom stehen geblieben war: „Ich sehe darin eine besondere Variante der Barbarei, dass man es sich nicht leisten kann, den Kölner Dom kaputtzuschmeißen“, meinte er sarkastisch. Davon abgesehen empfand er ganz ähnlich wie Spender: „Das zerstörte Köln hatte, was das unzerstörte nie gehabt hatte: Größe und Ernst.“Die Ruinenstadt war für ihn auch ein Ort der Hoffnung. Untergegangen war schließlich eine Stadt unter dem Hakenkreuz. Stattdessen entstand in seinen Augen nun so etwas wie die klassenlose Gesellschaft. Es ging jetzt um die elementaren Dinge des Lebens: zu essen, im Winter zu heizen und ein Dach über dem Kopf zu haben.
In der Trümmerwüste erlebte der junge Schriftsteller glückliche Stunden. Er saß in seiner Mansarde, trank Tee, rauchte Zigaretten und tippte auf der alten Schreibmaschine seines Vaters. Als die Trümmer schließlich weggeräumt wurden, war er überhaupt nicht begeistert: „Ich habe keine Schippe angefasst.“
Zehn Jahre später, als im neu entstehenden Köln schon Tankstellen und Autopavillons leuchteten, versuchte er, die Trümmeratmosphäre künstlich wiederherzustellen. Jeden Tag schickte er einen seiner Söhne in den Keller, um Trümmerbrocken gegen die Wand zu schlagen, „woraufhin dem Beutel ein feiner, köstlich nihilistischer Staub entsteigt: jenes Stimulans, ohne das ich einfach nicht arbeiten kann; ich atme dieses Puder der Vernichtung wie andere Opium.“
Das moderne Köln interessierte Böll nicht mehr. Er nannte es das „Auto-Köln“. „Köln ist für mich eine verschwundene, versunkene Stadt, in der ich einige Punkte noch erkenne, und das sind eben hauptsächlich die Kirchen, die romanischen Kirchen“, sagte er ein Jahr vor seinem Tod. In gewisser Weise sehnte er sich nach der Kargheit der Trümmer zurück. Einen Eindruck davon gibt sein Arbeitszimmer, das im zweiten Stock der Kölner Stadtbibliothek überdauert und kostenlos besichtigt werden kann. Der abgewetzte Schreibtisch, das Bambusbett – niemand würde auf die Idee kommen, dies für die Wirkungsstätte eines bedeutenden Autors zu halten.
Böll stand als Person und Schriftsteller in Opposition zu vielem, was die junge Bundesrepublik ausmachte. Am Ende seines Lebens fühlte er sich in seiner Heimatstadt so fremd, dass er sie verließ. Er wohnte danach entweder in Bornheim-Merten oder in Langenbroich in der Eifel. Dort ist er im Juli 1985 gestorben, und in Merten liegt er begraben. Nach Köln zurück wollte er nicht.