Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Keller hört auf
Schlussstrich, wenn der Erfolg am größten ist: Der „Alchemist“von Eigeltingen brennt nicht mehr
Die Sache mit dem Schnaps, da ist Christoph Keller mal wieder so zufällig reingestolpert. Kann man sich gar nicht ausdenken, weil ein Drehbuch mit seiner Geschichte hätte jeder Filmproduzent ablehnen müssen. Zu unwahrscheinlich, abgefahren, ja fast an den Haaren herbeigezogen. Wer soll das glauben? Ein Kunstbuchverleger, der schon zum Verlegen wie die Jungfrau zum Kinde gekommen ist, schwimmt zur Jahrtausendwende in Frankfurt am Main auf einer unverschämten Erfolgswelle. Große Museen wollen Buchprojekte mit ihm machen, weil er für seine Zeit damals so anders, so neu ist. Künstler stehen Schlange.
Keller genießt das natürlich und da machen ihm die 14 Stunden in seinem Büro, das auch noch Teil der eigenen Wohnung ist, wo seine Frau und die beiden Kinder leben, zunächst gar nicht viel aus. Und weil Keller damals schon gewusst hat, dass man die besten Deals nicht an einem hochglanzpolierten Konferenztisch, sondern am klebrigen Tresen einer Bar macht, und der richtige Schmierstoff für solche Geschäfte kein glanzloser Bohnenkaffee, sondern süffige Gin-Tonics sind, werden seine Arbeitstage noch länger. Bis er eines Tages das Gefühl hat, zwar immer zu Hause, aber doch nie anwesend zu sein.
Das ist der Punkt, an dem Keller zum ersten Mal einen unerhörten Erfolg hinter sich lässt: Zunächst geht er mit Sack und Pack samt Familie nach Dänemark und verliebt sich ganz neu ins Leben im Allgemeinen und ins Landleben im Speziellen. Und so kommt es, dass die kleine Familie, während alle Welt in die großen Städte drängt und Berlin das einzig selig machende Mekka zu sein scheint, sich irgendwo bei nirgendwo, genauer gesagt nahe Eigeltingen im Hegau bei Stockach, niederlässt. Der Hof samt ein paar Hektar Land heißt Stählemühle.
Als Keller das alte Hofgut im Jahr 2004 ausmistet, um es für sich und seine Lieben überhaupt erst bewohnbar zu machen, kann er nicht ahnen, dass der Begriff „Stählemühle“zehn Jahre später für Destillate von tatsächlichem Weltruhm stehen wird. Nur zur Einordnung: Beim Tag der offenen Tür reisen Menschen sogar extra aus Japan nach Eigeltingen, um den „Alchemisten“, wie ihn Journalisten getauft haben, einmal leibhaftig zu sehen.
Und da sitzt er nun, dieser leibhaftige Christoph Keller in seiner kleinen Küche. Während die Kaffeemaschine gemütlich vor sich hin brummt, sagt er Sätze wie: „Der Erfolg, diese ungeheure Entwicklung, das ist schon auch ein Dilemma.“Keller kratzt sich an seinem grauen Bart und lässt die Augen aufleuchten. „Denn wir verlieren völlig unser Maß, unsere Mitte.“Damit meint er, dass ein vernünftiges Maß an Genuss, vernünftiges echtes Essen zum Beispiel, langsam aus dem Alltag des normalen Lebens der ganz normalen Leute verschwindet. „Die permanente Verfeinerung, Optimierung unseres Lebens – in allen Bereichen – ist eine Sackgasse, in der wir uns verlieren werden.“Dafür würden Dinge im Luxussegment, wozu seine Destillate unbestritten zählten, zum Statussymbol. Übertreibungen allenthalben.
Keller selbst ist ebenfalls ein übertriebener Charakter, was sich gut an den Geschehnissen ablesen lässt, die passiert sind, während die Familie sich gerade in der badischen Provinz einrichtet. Eines Tages steht
„Ich habe das Gefühl, die Geschichte ist auserzählt.“
der Zoll vor der Tür und macht Keller darauf aufmerksam, dass mit dem Hof ein Brennrecht verbunden ist. Und wenn dieses Recht auf absehbare Zeit nicht in Anspruch genommen wird, verfällt es. „Also habe ich angefangen zu brennen.“Nötig hatte das der heute 48-Jährige eigentlich nicht. „Ein Hobby halt“, sagt er, als handle es sich bei den inzwischen 260 verschiedenen Destillaten um eine Briefmarkensammlung. Christoph Keller
Es dauert nicht lange, da kann Kellers Frau nicht mehr genau auseinanderhalten: Brennt ihr Mann den Schnaps, oder brennt der Schnaps den Mann? Denn Keller entwickelt nach den ersten positiven Versuchen eine Akribie beim Destillieren, dass er wenig später sozusagen lichterloh in Flammen steht bei allem, was sich um Obstsorten, Maische, um Hefen, Methoden, Modifikationen an der Destille, um Präsentation und tausend Details mehr dreht. Es vergeht nur wenig Zeit, da räumen die Destillate von Keller regelmäßig haufenweise Auszeichnungen und Medaillen ab.
Mit einem Freund versucht er sich – sozusagen nebenbei – an einer Spirituose, die in den Bars damals noch ein etwas zwielichtiges Schattendasein fristet: dem Gin. Heraus kommt dabei der „Monkey 47“, inzwischen eine Weltmarke. Schwer zu glauben, dass der ungeheure Boom des Gins, in einer kleinen Brennkammer der Stählemühle seinen Anfang genommen hat. Keller hat die Rezeptur des „Monkey 47“entwickelt. Er ist der Vater des weltweiten Hypes und schuld am Umstand, dass inzwischen gefühlt jeder zweite Obstbauer im Land auch einen Gin zusammenrührt, weil es halt chic ist. „Jeder, der ein Feuerchen machen kann, brennt heute Gin. Das braucht die Welt nicht.“
Aber auch das Projekt Gin hat Keller losgelassen, als der Erfolg am größten wurde. Heute gehört die Marke einem multinationalen Konzern, der die Potenz besaß, den „Monkey 47“auch in die letzte Bar im hintersten Winkel dieses Planeten zu platzieren. Interessiert hat ihn die Botanik, die Grundlage allen Brennens, auch bald wissenschaftlich. Ihn, den aus Stuttgart Stammenden, der eigentlich Kunst und Philosophie studiert hat. Heute besitzt er eine Sammlung mit mehreren Hundert Bänden, die sich mit der Brenntradition mehrerer Hundert Jahre auseinandersetzen.
Natürlich kokettiert Christoph Keller, wenn er die Ungeheuerlichkeit seines schnell aufgesogenen Fachwissens kleinredet. Aber wie sonst könnten Kreationen entstehen wie ein „Brand vom badischen Speierling“? Oder eine „Wilde Vogelbeere aus Reute im Hegau?“Ganz zu schweigen vom „Geist vom Hegauer Steinpilz“. Die Vielfalt an Destillaten ist so weitreichend wie exotisch. Außerdem: Keller dokumentiert mit den Schnäpsen aus regionalen oder gar lokalen Früchten, die er aus der Vergessenheit gerissen hat, wie wichtig es ihm ist, etwas zu bewahren. Die Stählemühle“ist damit gleichsam eine kleine Arche, die Äpfel wie die Goldrenette, den Hegauer Jakobsapfel oder bei den Birnen das Goldschrätle am Leben erhält. Oder den kleinen Kosmos von Pflaumenund Zwetschgenraritäten. Oder. Oder. Oder.
„Es ist ein wunderbares Kompliment, wenn jemand zu mir sagt, er habe beim Verkosten eines Gravensteiner Apfelbrandes an den Garten seiner Oma denken müssen“, sagt Keller, der selbst auch gerne von Alchemie spricht, wenn es um das Destillieren, das Isolieren von Aromen, ihr Verstärken und Betonen geht. Geruch und Geschmack seien ohnehin die starken Anker in unseren Erinnerungen. Und so kann der aromatische Hauch eines sauberen Destillats die Türen zu einer Vergangenheit öffnen, deren Existenz der rationale Teil des Gehirns schon längst vergessen hatte.
Und jetzt soll also wieder Schluss sein. Jetzt, wo die ganze Welt der feinen Zungen nach seinen Bränden lechzt. Jetzt, wo er im Prinzip jeden Preis aufrufen kann. Ausgerechnet jetzt, wo die grundlegende Ästhetik seines Gestaltungswillens die ganze Stählemühle durchdrungen hat. Auch das Reifelager, reduziert auf Beton, Holz und Glas, wo der Schnaps atmet. Der Ausstellungsraum, der Versandraum und seine Edelbrandbibliothek, wo er alles bewahrt, was je durch seine Destille geschwebt ist. „Ich habe das Gefühl, die Geschichte ist auserzählt“, sagt Keller und sieht dabei ein bisschen müde aus. Qualität, Vielfalt – er habe den Eindruck, an diesen Stellschrauben nicht mehr viel weiter drehen zu können.
Immerhin: Auf gepackten Koffern sitzt Keller diesmal nicht. „Das ist jetzt unsere Heimat und das bleibt es auch.“Ein bisschen Brennen, sozusagen für den Hausgebrauch, das werde er auch weiterhin. Aber nicht mehr für den Verkauf. Der endet 2018, wenn das Lager leer sein wird.
Natürlich ist sein Entschluss, aufzuhören, nicht unbemerkt geblieben. Er hat wieder Besuch von Firmen bekommen, die mit der Marke Stählemühle ein Geschäft machen wollen. Aber Keller hat nicht lange nachdenken müssen, um „Nein“zu sagen. Er will nicht – um kein Geld der Welt – dass unter dem Namen, dessen Ruf Christoph Keller, der schottischen Whisky für überschätzt hält
er geprägt hat, irgendwann einmal etwas verkauft wird, was mit den Werten, mit den hehren Zielen, die damit verbunden sind, nichts mehr zu tun hat.
Vielleicht liegt Kellers Geheimnis darin, das Schnapsbrennen zu keinem besonderen Zweck, sondern um der Sache selbst willen angefangen zu haben. Dann erzählt er eine kleine Geschichte von einem Grappa-Destillateur in Italien: Der Mann hat einen miserablen Schnaps gebrannt. Doch irgendwann kam einmal ein Mensch von einer Zeitung und schreibt einen Artikel über ihn, den die sogenannte Toskana-Fraktion in Deutschland liest. Also Menschen, die sich, wenn sie auf Besuch in Italien sind, italienischer geben als die Italiener selbst. Jedenfalls kommen die Leute scharenweise zu ihm, um einen der schlechten Schnäpse zu kaufen. Und was macht der Mann? Der schickt die Leute zwischendurch weg, blafft sie an, wodurch immer mehr kommen. „Er hat das Angebot verknappt und den Preis damit in die Höhe getrieben“, erzählt Keller weiter und grinst. Zwar ist die Qualität seiner Brände durch jede Menge Preise und Auszeichnungen unbestreitbar. Und Keller hat noch niemanden rüde vom Hof gejagt. Doch ein bisschen zeigt die Geschichte was passiert, wenn ein Produkt plötzlich hysterisch nachgefragt wird. Es gelangt nicht immer in die Hände, für die Keller es gemacht hat. „An so einem Hype haben wir uns nie orientiert“, betont Keller. Doch es gebe natürlich Parallelen in der Wirkung.
„Geld ist nicht alles“, sagt ein nachdenklicher Christoph Keller schließlich und zündet sich eine Zigarette an, die rasch die kleine Küche mit blauem Rauch füllt. Er habe noch nie verstehen können, was zum Beispiel Leute antreibt, die Hunderte Millionen haben und das Geld trotzdem oder gerade deshalb vor der Steuer verstecken.
Und doch ist die Gier auch eine der Triebfedern im Leben von Keller. Die Gier nach Erfolg. Die Gier nach Perfektion. Die Gier nach Anerkennung. „Als Narzisst, der ich bin, kann man nicht delegieren, nicht loslassen. Man muss alles selber machen“, sagt er ohne zu kokettieren und sehr reflektiert. Und damit ist es nur konsequent, wenn er das Projekt Stählemühle für beendet erklärt. Um sehr bald schon in etwad Neues hineinzustolpern. Und um vielleicht genau wieder dann aufzuhören, wenn der Erfolg am größten ist.
„Wenn Sie einen Schnaps von einem benachbarten Hof kaufen, haben Sie etwas viel Exklusiveres.“