Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Von der Spitze ins drohende Abseits
Cem Özdemir will nicht Parteichef bleiben, doch was aus ihm wird, ist unklar
BERLIN (sal) - Für die Grünen in Berlin stellt sich die Frage, was ihr Spitzenkandidat Cem Özdemir (Foto: dpa) in Zukunft macht. Dass er den Parteivorsitz im Januar abgeben will, hat er schon vor einem halben Jahr angekündigt. Doch die Jamaika-Verhandlungen sind vorbei und damit auch sein Traum vom Ministerposten. Der 51-jährige Spitzengrüne muss neu überlegen. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann hätte ihn gerne an der Fraktionsspitze in Berlin, doch das entscheiden andere.
- Er war fast am Ziel. Grüner Minister in einer Jamaika-Koalition zu werden, das war für Özdemir zum Greifen nah. Der Traum platzte mit dem Scheitern der Verhandlungen. Doch was kommt jetzt? Bis Ende Januar ist Cem Özdemir noch Parteichef. Danach, wie es jetzt aussieht, nur noch einer unter 67 Abgeordneten der Grünen-Bundestagsfraktion. Die Nummer eins auf der Hinterbank?
Cem Özdemir lässt sich in diesen Tagen wenig entlocken. Sein Platz sei dort, „wo Partei und Fraktion glauben, dass ich meine Fähigkeiten am besten einbringen kann“. Seine Fähigkeiten sind nicht nur bekannt, sondern auch allgemein anerkannt: Mit den Themen Europa, Integration, Islam und Krise der Türkei hat er sich in den vergangenen Jahren profiliert. Er ist ein guter Redner im Deutschen Bundestag, und im neuesten Politiker-Ranking von Infratest dimap im Auftrag der ARD-Tagesthemen ist Özdemir gerade auf Platz zwei gestiegen. Gleich hinter Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) und vor Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Grund genug, dass es Stimmen in der Partei gibt, wie jene von BadenWürttembergs grünem Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der Özdemir gerne weiterhin in herausgehobener Position sähe. Schließlich sei er erfahren, „und er hat auch gezeigt, dass er Führungsqualitäten hat“, lobt Kretschmann ihn.
Will in Berlin bleiben
Özdemir will derzeit wenig über seine Pläne verraten, hat aber eines klar gesagt: Er will Bundespolitiker bleiben. Damit reagiert Özdemir auf Gerüchte, er könne Kretschmann in einiger Zeit als Ministerpräsident in Baden-Württemberg ablösen, oder erst einmal als Minister in die Stuttgarter Landesregierung wechseln, um ihn dann später abzulösen. Das beste Alter dazu hätte er. Cem Özdemir ist heute 51 Jahre alt.
35 Jahre ist es her, dass er im Alter von 16 Jahren einen Einbürgerungsantrag gestellt hat. Damit irritierte er damals seine Eltern. 1994 kam er in den Bundestag und schrieb ein Buch über seine Herkunft, seine Kindheit, seine Integration. „Ich bin Inländer“, heißt sein Werk, Untertitel: „Ein anatolischer Schwabe im Bundestag“. Heute ist das alles selbstverständlich, Cem Özdemir ist sogar zum Bierbotschafter des Deutschen Brauerbundes ernannt worden.
Ein bisschen Stolz
Doch Özdemir hat bei den JamaikaVerhandlungen noch einmal innegehalten, fast so, als wunderte er sich selbst. Ein bisschen Stolz schwang mit. Dass er, der Sohn türkischer Einwanderer aus Bad Urach, es bis zu Verhandlungen mit der Bundeskanzlerin gebracht hat. Er ist höflich, er versteht sich mit Angela Merkel, er lotet schwarz-grüne Möglichkeiten aus. Manche mögen genau das an Özdemir nicht. Er habe sich zu sehr angedient bei der Kanzlerin, hört man aus der FDP.
Doch es waren anstrengende Verhandlungen, zu deren Beginn Özdemir gesagt hat: „Jamaika, das ist wie wenn Borussia Dortmund und Schalke gemeinsam ein Stadion bauen.“Es hat nicht geklappt mit dem Bau. Gleich nach dem Scheitern hat Özdemir auf dem Grünen-Parteitag gesagt, er hätte gerne seiner siebenjährigen Tochter berichtet, dass Deutschland aus dem Lager der Klimasünder austritt und in das Lager der Schützer wechselt. Die Delegierten dankten ihm stehend, eine Ausnahme. Doch Özdemir weiß, dass der Jubel geringer gewesen wäre, wenn es zum Schwur gekommen wäre, zum Beispiel in der Flüchtlingsfrage.
Lange vor den Sondierungen und vor der Wahl, schon im Juni dieses Jahres, hat Cem Özdemir angekündigt, dass er nicht noch einmal als Parteichef der Grünen antreten will. Hat er das inzwischen bereut? „Nein“, antwortet Özdemir, „ich habe mich früh entschieden, den Parteivorsitz abzugeben, und das mit Bedacht“. Er habe doch schon alle Rekorde gebrochen, schließlich ist er der am längsten amtierende Parteivorsitzende der Grünen.
Neun Jahre hat er an der Spitze der Partei Höhen und Tiefen erlebt. Höhen wie jene, dass 2011 in seiner Heimat der erste grüne Ministerpräsident Deutschlands gewählt wurde. Tiefen wie 2013, als die Grünen bei der Bundestagswahl 2,3 Prozent einbüßten. Dieses Jahr trat er selbst als Spitzenkandidat an. Die Partei holte mit 8,9 Prozent nur 0,5 Prozent mehr als 2013, doch angesichts miserabler Umfragen vor der Wahl wurde das Ergebnis gefeiert. Diejenigen, die sich schon wie Robert Habeck auf die Mission Retter der Partei einstellten, mussten erst einmal warten. Erleichtert ging Özdemir in die Jamaika-Verhandlungen.
Linke würden kaum mitziehen
Und jetzt? „Das Feuer brennt immer noch – ich will die Ärmel weiter hochkrempeln“hat Özdemir gerade auf dem grünen Landesparteitag in Heidenheim gesagt. Doch was genau will er tun? Er hält sich zurück, andere werden deutlich. Winfried Kretschmann hat gesagt: „Ich würde mich freuen, wenn die Bundestagsfraktion ihn zum Vorsitzenden wählen würde.“Doch die Bundestagsfraktion ist wie alle grünen Gremien nach dem Strickmuster eins links, eins rechts gebaut. Forderte Özdemir Toni Hofreiter heraus, würde die Parteilinke toben. Zumal es so aussieht, als ob an die Parteispitze mit Robert Habeck und Annalena Baerbock schon zwei Realos kommen könnten. Beerbt Özdemir aber Katrin Göring-Eckardt, fehlt eine Frau an der Spitze. Das Dilemma der Nummer eins lässt sich nicht so leicht auflösen.