Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Sonderermittler deckt viele Pannen auf
Am Dienstag jährt sich der Berliner Terroranschlag – Amri hatte auch Alexanderplatz und Berliner Dom im Visier
BERLIN - Es war ein Schock. Kurz vor Weihnachten, am Abend des 19. Dezember, stehen abends fröhliche Touristen und Berliner an festlich beleuchteten Wurstbuden und Geschäften des Weihnachtsmarkts auf dem Breitscheidplatz gleich an der Gedächtniskirche. Viele genießen einen warmen Glühwein an diesem eiskalten Abend. Minuten später ein großer Knall. Man hört Schreie, Trümmer der Holzbuden fliegen umher, Tote und Verletzte liegen auf dem Pflaster.
Ein Lastwagen, mit 25 Tonnen Baustahl beladen, ist mit hoher Geschwindigkeit in die Menge gerast und hinterlässt ein Bild des Schreckens. Tote und Verletzte werden abtransportiert. Blaulichter überall. Absperrungen und herumirrende Menschen. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller eilt zum Tatort. Erst nach Mitternacht kennt man das ganze Ausmaß: Zwölf Menschen verloren ihr Leben, als der islamistische Attentäter Anis Amri mit dem gestohlenen Laster in den Weihnachtsmarkt raste. Die Toten kommen aus Israel, Italien, Tschechien, der Ukraine und Deutschland. 70 weitere Menschen werden teils schwer verletzt.
Es ist ein Attentat, auf das in Deutschland niemand wirklich vorbereitet war. Man ahnte, dass so etwas auch hier passieren könnte. Paris, Nizza, der Terror ist in Europa allgegenwärtig – doch plötzlich ist er auch in Deutschland, auch in Berlin angekommen.
Schon am nächsten Mittag findet für die Toten ein Trauergottesdienst in der Gedächtniskirche statt. Doch viele Angehörige wissen da noch gar nicht Bescheid. Manche suchen in Krankenhäusern nach ihrer Familie. Gewissheit haben die meisten erst Tage später.
Offener Brief an die Kanzlerin
Für die Familien der Opfer folgen Tage der Angst, der Unsicherheit, später der Gewissheit und dann auch der Wut. Über das Versagen deutscher Behörden, über völlige Gefühllosigkeit, als Hinterbliebene noch vor Weihnachten die Obduktionsrechnungen der Charité samt Inkasso-Formularen erhielten.
Die Hinterbliebenen haben sich kurz vor dem Jahrestag in einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin gewandt. Es mangele in Deutschland an grundlegender Professionalität im Umgang mit dem Terrorismus, schreiben sie da an die Kanzlerin. Es seien Fehlleistungen zutage gekommen, die als alarmierend einzustufen seien.
Der Terrorist Anis Amri war als Top-Gefährder bekannt und mehrfach strafffällig geworden. Möglichkeiten seiner Abschiebung wurden verpasst.
„Wir müssen zur Kenntnis nehmen, Frau Bundeskanzlerin“, schreiben die Angehörigen, „dass Sie uns auch fast ein Jahr nach dem Anschlag weder persönlich noch schriftlich kondoliert haben. Wir sind der Auffassung, dass sie damit ihrem Amt nicht gerecht werden.“Ein harter Vorwurf, der die Kanzlerin wohl traf. Ein Jahr nach dem Anschlag will Angela Merkel Mitgefühl zeigen. Sie trifft sich am Vorabend des Jahrestages mit den Angehörigen der Opfer. Sie wolle „zuhören und genau wissen, was es ist, dass den Angehörigen eine ungeheuer schwere Zeit möglicherweise unnötig noch schwerer gemacht hat“, sagt Regierungssprecher Seibert. Einen Tag später, dem Jahrestag des Attentats, wird das Denkmal für die zwölf Ermordeten öffentlich vorgestellt. Stufen der Erinnerung mit den Namen der Ermordeten, dahinter steht ihr Herkunftsland.
Für Angela Merkel werden es schwierige Stunden, denn die Angehörigen nehmen die deutsche Politik mit in Verantwortung. Wohl zu Recht. Der Sonderermittler des Berliner Senats deckte viele Pannen auf.
Wie die Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland am Freitag unter Berufung auf Akten der ermittelnden Generalbundesanwaltschaft und des Bundeskriminalamts berichteten, dachte Amri auch über einen Anschlag am Alexanderplatz und nahe dem Berliner Dom nach. Demnach inspizierte Amri viermal den Weihnachtsmarkt auf dem Alexanderplatz – zuletzt nur wenige Stunden vor dem Anschlag an der Gedächtniskirche. Die Familie des Attentäters will sich zu dem Anschlag nicht mehr äußern.
Zwei gefälschte Ausweise
Am 30. Juli 2016, als Amri in Friedrichshafen festgenommen wurde, weil er zwei gefälschte Ausweise bei sich hatte, hätte es laut dem Sonderermittler des Berliner Senats, Bruno Jost, eine realistische Chance gegeben, ihn aus dem Verkehr zu ziehen (siehe unten stehenden Text). Ausländerrechtlich wäre, nachdem sich Amri 2015 in Ellwangen gemeldet hatte, Baden-Württemberg für die Ausweisung zuständig gewesen.
In Berlin wiederum wurde Amri nur von Montags bis Freitags und abends nur bis 23 Uhr überwacht, obwohl er als Gefährder galt. Es bleiben viele Fragen offen. Die Frage, die am schwersten wiegt, ist jene, ob der Anschlag hätte vermieden werden können.