Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Drängeln, behindern, blockieren
Experten beklagen zunehmende Aggressivität im Straßenverkehr
GOSLAR (dpa) - Eine Frau aus Bremen fährt bei Göttingen auf dem Überholstreifen der A7. Von hinten rast ein Sportkombi heran und fährt dicht auf. Der Fahrer hupt und betätigt die Lichthupe. Die Bremerin erschrickt und verliert die Kontrolle. Der Kleinwagen schleudert, überschlägt sich und bleibt auf dem Dach liegen, die Fahrerin ist schwer verletzt. Fälle wie diesen haben Experten vor Augen, wenn sie die zunehmende Aggressivität auf Deutschlands Straßen kritisieren. Die Bußgelder müssten erhöht werden, fordern Teilnehmer des 56. Verkehrsgerichtstages (VGT), bei dem diese Woche mehr als 1800 Experten aus Justiz, Unternehmen, Hochschulen und Verbänden diskutieren.
„Es gibt aggressives Verhalten vor allem auf den Autobahnen“, hat VGT-Präsident Kay Nehm festgestellt: „Behindern, Linksfahren, Inder-Mitte-fahren – das hat sich bedauerlicherweise breitgemacht“, sagt der frühere Generalbundesanwalt. Ähnlich sieht man es beim Autoclub AvD: Aggressives Verhalten im Straßenverkehr gehe fast immer auch mit groben Regelverletzungen einher, sagt Sprecher Herbert Engelmohr. Dabei werde die Schädigung anderer zumindest billigend in Kauf genommen.
„Die Toleranz von Straßenverkehrsteilnehmern nimmt ab“, hat auch der Verkehrsjurist Jörg Elsner beobachtet. „Das Phänomen wird jeden Tag deutlich an Verengungen von zwei Fahrspuren auf eine.“Auch wenn es nur um einen Raumgewinn von einer Fahrzeuglänge gehe, seien Verkehrsteilnehmer häufig nicht bereit, andere Fahrer einfädeln zu lassen, sagt der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht des Deutschen Anwaltvereins. Auch bei Unfällen spiele die fehlende Disziplin der Verkehrsteilnehmer eine erhebliche Rolle. „Wer abbiegen will, blinkt häufig nicht.“Und auch die Beachtung des rückwärtigen Verkehrs auf zweispurigen Fahrbahnen lasse deutlich nach. „Die Kraftfahrer ziehen einfach raus“, sagt der Verkehrsanwalt. Ein weiteres Problem seien „Kraftfahrer, die meinen, andere disziplinieren zu müssen, etwa indem sie die Überholspur blockieren“. Der Vorsitzende des Autoclubs ACE, Stefan Heimlich, fasst es so zusammen: „Bei vielen Verkehrsteilnehmern steht das Ich vor dem Wir.“
„Wir stellen punktuell fest, dass die Aggressivität im Straßenverkehr steigt“, bestätigt Kurt Bartels vom Vorstand der Bundesvereinigung der Fahrlehrerverbände. Möglicherweise spielten dafür erhöhte Arbeitsbelastung, Leistungs- und Zeitdruck eine Rolle, vermutet Wolfgang Schönwald von der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Obwohl es keine wissenschaftlichen Daten gebe, bestehe auch bei seiner Gewerkschaft der Eindruck, dass zum Beispiel dichtes Auffahren oder Drängeln tatsächlich um sich greift. „Viele Verkehrsteilnehmer wissen nicht mehr, wie man sich auf den Straßen korrekt benimmt“, sagt Bartels. „Sie kennen den Verkehrsknigge nicht.“Vieles resultiere aber auch aus der zunehmenden Verkehrsdichte.
„Dass es immer enger und voller wird“, ist auch für ACE-Chef Heimlich „eine zentrale Ursache“für die zunehmende Aggressivität. Er schlägt als „angemessene Reaktion auf die zunehmende Aggression im Straßenverkehr“eine Anhebung der Bußgelder und die Verschärfung des Punktekatalogs vor. Zustimmung gab es bereits vom Automobil-Club Verkehr ACV, auch weil die Bußgelder im europäischen Vergleich Schnäppchen seien. Auch die Deutsche Polizeigewerkschaft will höhere Bußgelder, weil die derzeitigen Sätze selten abschreckend wirkten.