Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Wenn der Ortsrand zum Zentrum wird
Durch neue Wohnsiedlungen und Gewerbegebiete verlagert sich das gemeindliche Leben
ALLGÄU - Viele Menschen wollen im Allgäu wohnen. Für Bauplätze gibt es teilweise lange Wartelisten. Das kann zum Problem werden: Durch immer neue Baugebiete verlagert sich das Leben aus dem Ortskern an den Siedlungsrand. Daher versuchen einige Gemeinden, mehr freie Flächen im Ort zu bebauen sowie durch An- und Umbauten mehr Wohnungen im Ortskern zu schaffen.
In Dietmannsried (Oberallgäu) sind in den vergangenen zehn Jahren vier Baugebiete mit 50 Bauplätzen sowie vier Wohnanlagen mit 36 Wohnungen entstanden. Im Gewerbepark haben sich Lebensmittelketten und Discounter angesiedelt. „Die Einkaufsmöglichkeiten lagen viele Jahre am Ortsrand, inzwischen haben wir Wohnsiedlungen um sie herum“, sagt Bürgermeister Werner Endres (FW). Von einer Gefahr für den Ortskern will er zwar nicht sprechen. Dennoch: „Wer sagt, es gibt diese Probleme nicht, der verschließt die Augen.“Er sieht jedoch Möglichkeiten, kleine Läden in den Ortskern zu locken, etwa Eine-Welt-Läden und BäckereiCafés. „Wenn wir die Umgebung attraktiv halten, ist es angenehmer, dort einen Kaffee zu trinken als in einem Gewerbegebiet.“
Dietmannsried kann die Nachfrage nach Bauplätzen nicht befriedigen. „Unsere Einwohnerzahlen sollen sich in einem gesunden Niveau entwickeln, aber ohne Zuwachs geht es nicht“, sagt Endres. Schließlich seien es vor allem junge Familien, die in die Wohngebiete ziehen – und sich am Dorfleben und in den Vereinen engagieren.
Keine neuen Baugebiete
„Wenn wir einen Drogeriemarkt in der Gemeinde haben wollen, müssen wir die entsprechenden Flächen auch bereitstellen“, sagt Endres. Dafür seien die Gebäude im Ortskern zu klein. „Dass die Kaufkraft vom Ortskern zum Rand wandert, lässt sich nicht ganz verhindern“, glaubt er.
Die Westallgäuer Gemeinde Heimenkirch lässt seit 2011 keine Baugebiete im Außenbereich zu. „Uns ist damals aufgefallen, dass im erweiterten Ortskern viele Senioren allein leben“, erklärt Bürgermeister Markus Reichart (Grüne). Wenn diese in Seniorenzentren und betreute Wohngruppen ziehen, stünden ihre Häuser leer. „Junge Familien entscheiden sich eher für Neubaugebiete als für bestehende Immobilien“, sagt Reichart.
Das Kalkül der Gemeinde: Ohne Baugebiete kaufen junge Familien Häuser im Ort. Die Verwaltung führt bereits eine Liste mit Interessenten. Laut Reichart gibt es auch 50 Baulücken in Heimenkirch. Das Problem: Die sind oft in Privatbesitz, die Verhandlungen mit den Inhabern schwierig. Bürgermeister Markus Reichart spricht derzeit mit den Besitzern. Er hofft, die Bürger so für das Thema zu sensibilisieren. Fest stehe: „Die Nachverdichtung ist ein aufwendiger Weg.“
Heimenkirchs eigenwillige Siedlungspolitik bleibt nicht ohne Kritik. „Es gibt schon Leute, die unbedingt bauen wollen. Da trifft Individualinteresse auf gemeindliches Interesse“, fasst Reichart zusammen. In solchen Fällen vermittle er die Familien an Nachbargemeinden. Dahinter steht eine Grundsatzeinstellung: „Wir wollen nicht um jeden Preis wachsen.“
Auch Firmen dürfen in Heimenkirch nur im Ort erweitern. 2014 wollte ein Lebensmittelhändler am Ortsrand bauen. „Für uns war klar: Wenn es einen Neubau gibt, dann in der Dorfmitte“, sagt Reichart. Inzwischen steht der Markt neben der Turnhalle im Ortskern – nicht ohne Kritik der Vereine, die dadurch den Festplatz verloren haben.
Oftmals seien innerörtliche Baulücken keine Alternative zu Gewerbegebieten, etwa wegen des Lärmschutzes, sagt auch Stefan Sprinkart von der IHK Kempten-Oberallgäu. Für die IHK stehe fest, dass wirtschaftliches Wachstum ohne Flächenverbrauch nicht möglich sei. Laut IHK machen Gewerbegebiete zehn Prozent des schwäbischen Flächenverbrauchs aus, Wohnhäuser 26 Prozent und Verkehr 36 Prozent. „Wenn ein lokaler Betrieb erweitern will und es keine Flächen dafür gibt, haben wir ein Problem“, sagt Sprinkart.
Grüne, ÖDP und Bund Naturschutz (BUND) wollen den Flächenverbrauch in Bayern per Volksbegehren von derzeit 13,1 Hektar auf fünf Hektar pro Tag eindämmen. Hans Hack vom BUND-Kreisverband Ostallgäu-Kaufbeuren sind vor allem Gewerbegebiete ein Dorn im Auge: „Was da an Flächen vergeudet wird, geht gar nicht. Die Parkplätze gehören auf oder unter das Gebäude“, fordert er.
Auch von Ausgleichsflächen hält er wenig: „Das ist ein Feigenblatt: Die Bauern bluten doppelt, weil sie Wiesen für Bauland und für Ausgleichsflächen hergeben müssen.“Aus Naturschutzsicht sei es zwar wünschenswert, zunächst freie Flächen im Ort zu bebauen. „Aber gegen die hohe Nachfrage nach Bauplätzen kann man schwer argumentieren“, sagt Hack.