Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Schöner leiden
Die Passion ist tief in der Kultur Spaniens verankert, vor allem in der Kunst – Warum? Antworten findet man ausgerechnet im sonnig-heiteren Sevilla
Sevilla. Die dumpfen Trommelschläge sind schon von Weitem zu hören, die Bläser lassen nicht lange auf sich warten. Ohrenbetäubende Ausmaße kann das annehmen, und bald ist die ganze Stadt erfüllt von diesem getragenen Rhythmus, der selbst die unmusikalischsten Gemüter in einen Wiegeschritt zwingt. Dann taucht auch schon das „Cruz de la Guía“aus der Menge auf, ein imposantes Silberkreuz, mit dem die Palmsonntagsprozession und damit die „Semana Santa“, also die Karwoche, eröffnet wird. Sevilla ist im Ausnahmezustand.
Selbst in unseren profanen Zeiten funktioniert dieses fromme Spektakel wie eh und je. Immer noch gibt es fast 60 Laienbruderschaften, sodass jedes Viertel mit mindestens einer Prozession aufwarten kann, die Tausende Sevillanos und Touristen säumen. Prächtige „Pasos“werden durch die engen Gassen getragen, das sind altarartige Bühnen mit schmerzensreichen Gottesmüttern, Christusfiguren oder ganzen Szenarien, die das Passionsgeschehen wie etwa die Kreuzaufrichtung eindringlich und lebensnah vor Augen führen. Es folgen Büßer – „Nazareños“– in langen Gewändern, viele mit „Capirotes“, den typischen spitzen Hauben, die das Gesicht bis auf zwei Augenschlitze verhüllen.
Wer den Kapuzenträgern zum ersten Mal begegnet, dem kann durchaus mulmig werden, denn unwillkürlich denkt man an die grausigen Auftritte des rassistischen KuKlux-Klans in den USA. Beides hat aber rein gar nichts miteinander zu tun. Wahrscheinlich geht die auffällige Vermummung der Nazareños auf ein kirchliches Verbot im 14. Jahrhundert zurück. Der Papst untersagte damals die öffentliche Sühne, deshalb konnten die Büßer nur mehr „inkognito“durch die Straßen ziehen. Bei den Umzügen der Semana Santa, die auf das 16. Jahrhundert und die Gegenreformation zurückgehen, haben sich daraus schließlich die traditionellen Gruppen entwickelt.
Für Außenstehende mag das großes Kino sein. Wenn es um Theatralik geht, war und ist der Katholizismus einfach unschlagbar. Dabei zeigt gerade die Karwoche, wie sehr die Kirche noch heute den Jahresrhythmus der Spanier prägt. Und sei es nur in einer vornehmlich zur Schau gestellten Form, die nicht weit von jenem heiligen Ernst entfernt ist, mit der rheinische Karnevalisten am Rosenmontagszug tüfteln.
Kostbare Skulpturen
Manuel Pineda, ein besonders kirchenkundiger Stadtführer, sieht auch die Bruderschaften ziemlich nüchtern: „Unsere Hermandades sind letztlich wie Fußballvereine, das Gesellige gehört unbedingt dazu.“Und außerdem hätten die Männer auch immer einen ehrenwerten Grund, für ein paar Stunden zu verschwinden, an den Pasos müsse doch dauernd etwas ausgebessert werden.
Die Semana Santa mit dem Zurschaustellen der meist kostbaren historischen Passionsskulpturen gibt aber auch einen Hinweis darauf, wie sehr die spanische Kunst der frühen Neuzeit vom Leiden und vom Tod dominiert ist. Beim Gang durch die Museen des Landes und erst recht durch die Bildergalerien des monströsen königlichen Palastes El Escorial treten die Märtyrer und weltentsagenden Kuttenträger geballt auf: oft mit Totenköpfen in der Hand und mahnendem Blick. Doch dieses größte Renaissanceschloss, dass in der zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts im Norden der damals neuen Hauptstadt Madrid gebaut wurde, ist ja zu einem Gutteil auch Kloster. Denn bei aller Pracht, die Philipp II. für das „achte Weltwunder“angeordnet hatte, durfte die Gegenseite nie fehlen. Sozusagen als steingewordenes Memento mori. Gesündigt? Wurde wie überall. Und selbst sein fast schon manisch gläubiger Enkel hatte an jeder Ecke eine Geliebte. Übernachtete Philipp IV. in einem der zahlreichen Klöster des Landes, tat man gut daran, die Novizinnen in Sicherheit zu bringen.
Ein Widerspruch? Nicht wirklich, denn was König und Adel trieben, wurde nahezu kritiklos geduldet. Das war in Spanien noch rigoroser als anderswo in Europa. Das Land war unter den Habsburgern auch viel zu schnell viel zu mächtig geworden. Aus den jungen Kolonien flossen seit dem 16. Jahrhundert Unmengen Gold und Silber auf die iberische Halbinsel, und Sevilla hat dabei eine herausragende Rolle gespielt: Von der damals reichsten Stadt des Erdballs zog nicht nur die legendäre spanische Silberflotte aus, hier wurde auch der gesamte Handel mit der neuen Welt abgewickelt. Prunkvolle Paläste und üppig ausgestattete Kirchen bestimmen bis heute das Bild der andalusischen Kapitale.
Man sprach gar vom „Goldenen Zeitalter“, so als hätte sich das Paradies plötzlich auf der Erde ausgebreitet. Doch das Volk konnte von all dem Glanz kaum profitieren. Der spanische Nationaldichter Miguel de Cervantes lässt seinen Don Quijote 1605 wehmütig auf die „glückliche Ära der Alten“zurückblicken, die Gegenwart fand der Ritter allenfalls „eisern“. Und es sollte noch schlechter kommen. Während unter Philipp IV. die Künste ein nie dagewesenes Niveau erreichten, taumelte der Staat 1627 in den totalen Bankrott.
Was den Menschen blieb, war die Hoffnung aufs Jenseits, vermittelt von gepeinigten Märtyrern mit entrücktem Gesichtsausdruck. Denn die Vergegenwärtigung göttlicher Verheißungen macht selbst die furchtbarsten Qualen erträglich. Das war die Durchhaltebotschaft, die von dieser Kunst ausging. Und je realistischer sie gelang, umso leichter fiel das Mitleiden. Grausam klaffen die Wunden Christi, und übers Gesicht der Mater dolorosa rinnen glitzernde Kunstharztränen, die von echten kaum zu unterscheiden sind. Das gibt es so in keiner anderen Kunstlandschaft, die Meister solcher Skulpturen heißen Juan Martínez Montañéz oder Gregorio Fernández. Und in diesem Umkreis entstanden zu Beginn des 17. Jahrhunderts auch die Prototypen für die Passionsfiguren der Bruderschaften.
Mehrere hundert Kilo schwer sind diese Pasos, die noch in den 1970er-Jahren von angeheuerten Hafenarbeitern geschleppt wurden. Mittlerweile ist man aber wieder stolz, sich als „Costelaro“, also als Träger, völlig zu verausgaben – dabei tut man immerhin Buße. Und eine Prozession kann bis zu fünfzehn Stunden dauern, gerade in der wichtigsten Nacht von Gründonnerstag auf Karfreitag, wenn sich die Hermandades oder Cofradías mit so klangvollen Namen wie „El Gran Poder“, „Los Gitanos“oder „La Macarena“von der eigenen Pfarrkirche zur Kathedrale Santa María bewegen und Scharen von Zuschauern folgen.
Gefeierter Barockmaler
Die Umzüge waren allerdings nicht immer so populär. Noch in den 1930er-Jahren konnte man die Prozessionen in Cádiz, Málaga, Valladolid und selbst in Sevilla an einer Hand abzählen, und erst nach der Militärdiktatur Francos erfuhr die Semana Santa wieder eine Blütezeit. Sie hat übrigens den vom Aussterben bedrohten Berufsgruppen wie Goldund Silberstickern, Kunstschnitzern und Kerzenziehern volle Auftragsbücher beschert. Überhaupt profitieren die Wirtschaft und vor allem der Tourismus vom vorösterlichen Schauspiel. Und in diesem Jahr werden es in Sevilla noch einige Gäste mehr, die Stadt feiert den 400. Geburtstag ihres großen Sohnes Bartolomé Esteban Murillo.
Mädchenhafte Marien und mildtätige Heilige waren die Spezialität des Barockmalers, und mit ihnen kam um 1650 eine neue Eleganz, ja Leichtigkeit in die Malerei. Murillos Figuren werden von einem weichen Licht umspült, die Farben flirren, das bildet ein duftiges Gegenprogramm zur Düsterkeit der Passion. Das dürfte jetzt während der Semana Santa noch ein bisschen mehr ins Auge fallen. Wobei man eines nicht vergessen darf: Nach den Prozessionen wird gefeiert, die Büßer tun das nach ihrem kraftraubenden Einsatz sogar besonders ausgelassen. Andernfalls würden nicht jedes Jahr unzählige Laienbrüder durch die Gassen ziehen – wenn die Trommeln wummern und die Trompeten tröten. Ein tiefes, durchaus weltliches Vergnügen muss da schon dabei sein.
Unsere Hermandades sind letztlich wie Fußballvereine, das Gesellige gehört unbedingt dazu. Manuel Pineda, Stadtführer in Sevilla, über die Motivation der Laienbruderschaften