Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Wieder war es das Gift Nowitschok
Betroffenes britisches Paar wohl nicht Opfer eines gezielten Anschlags
LONDON - Die Vergiftung eines britischen Paares durch den chemischen Kampfstoff Nowitschok droht die ohnehin angespannten britisch-russischen Beziehungen weiter zu belasten. Nach einer Sitzung des Krisenstabes Cobra berichtete Innenminister Sajid Javid am Donnerstag dem Londoner Unterhaus über die Ermittlungen in Salisbury und forderte Aufklärung aus Moskau: „Russland könnte unsere sämtlichen Wissenslücken beseitigen und damit die Sicherheit der Menschen gewährleisten.“
Der mehr als 100-köpfigen Sonderkommission von Scotland Yard sowie britischen Medienberichten zufolge waren die 44-jährige Dawn Sturgess und der 45 Jahre alte Charlie Rowley am vergangenen Freitagnachmittag und -abend in dem südenglischen Provinzstädtchen Salisbury unterwegs gewesen. Nach diversen Einkäufen machten sie es sich im Queen Elizabeth Gardens, einem kleinen Park am Avon-Fluss, bequem und genossen die sommerliche Hitze.
Die Nacht verbrachte das arbeitslose Paar in Rowleys Wohnung im etwa 12 Kilometer entfernten Amesbury. Dort wurde am Samstag morgen Sturgess so krank, dass ihr Partner den Notarzt rief. Am Nachmittag veränderte sich auch Rowleys Zustand. „Er schwitzte stark, seine Augen waren rot, seine Pupillen winzigklein, er halluzinierte“, beschrieb ein Freund, der 29-Jährige Sam Hobson, die Symptome des 45-Jährigen in der Zeitung „Guardian“.
Die Ärzte im Distriktspital von Salisbury vermuteten zuerst den Konsum von womöglich verschmutzten Drogen. Spätere von der Kriminalpolizei Wiltshire veranlasste Tests im wenige Kilometer entfernten ABCLabor von Porton Down ergaben hingegen: Die in Lebensgefahr schwebenden Patienten leiden an einer Nowitschok-Vergiftung.
Damit ist Großbritannien bereits zum zweiten Mal mit dem höchst seltenen Kampfstoff konfrontiert, der in den 1980er-Jahren in sowjetischen Labors entwickelt wurde. Seither haben staatliche Forschungsstellen weltweit, auch Porton Down, mit Nowitschok experimentiert, wie es nach der Chemiewaffen-Konvention erlaubt ist.
Anfang März waren mitten in Salisbury der von Großbritannien aus russischer Haft freigekaufte ExAgent Sergej Skripal, damals 66, und seine 33jährige Tochter Julia bewusstlos auf einer Parkbank aufgefunden worden. Der Fundort ist nur wenige Fußminuten entfernt von Queen Elizabeth Gardens, wo sich Sturgess und Rowley am Freitag aufhielten. Die Skripals konnten nach wochenlanger Behandlung im Krankenhaus von Salisbury entlassen werden; sie sind aus der Öffentlichkeit verschwunden.
Keine weiteren Betroffenen
In Salisbury und Amesbury sind nun, wie im März nach dem Anschlag auf die Skripals, diverse Geschäfte und Grünflächen geschlossen. Wissenschaftler in Spezialanzügen nehmen Proben an all jenen Stellen, die von den beiden Opfern zuletzt besucht worden waren. Hobson wird regelmäßig untersucht; bisher aber, so die Polizei, sei kein anderer Bewohner der Region wegen unklarer Symptome bei einem Arzt vorstellig geworden. Hingegen hatten im März 32 Personen das lokale Krankenhaus aufgesucht; ein Polizeibeamter musste sogar mehrere Tage stationär behandelt werden.
Die Gesundheitsbehörde Public Health England (PHE) wehrte sich am Donnerstag gegen Vorwürfe, ihre wochenlange Säuberungsaktion in Salisbury sei im Frühjahr nicht gründlich genug gewesen. Hingegen verwies PHE-Abteilungsleiter Paul Cosford darauf, der neue Fall habe mit den Schauplätzen der SkripalVergiftung nichts zu tun. „Es gibt keinen Anlass zu der Vermutung, dass die Säuberungen nicht gewirkt haben.“
Bei Scotland Yard hieß es am Donnerstag zwar, man ermittle in „alle Richtungen“. Allerdings wird in den britischen Medien die Möglichkeit, sowohl die Skripals wie auch die neuen Opfer könnten von anderen als russischen Agenten vergiftet worden sein, nicht einmal erörtert. Offenbar gibt der Hintergrund von Sturgess und Rowley keinen Anlass zu der Vermutung, sie seien gezielt Opfer eines Mordanschlages geworden. Auch sind Verbindungen zu dem in Salisbury wohnenden Sergej Skripal nicht erkennbar.
Deshalb gilt als wahrscheinlich, dass winzige Reste des tödlichen Giftes an einer der Stellen abgelegt wurden, die Sturgess und Rowley am Freitag besuchten. Experten zufolge verringert sich die Toxizität von Nowitschok nur sehr langsam. Die Opfer könnten wenige Moleküle durch die Haut aufgenommen haben, was die verlangsamte Wirkung erklären würde.
Die britische Premierministerin Theresa May hat eine umfassende Untersuchung zum erneuten Fall angekündigt. „Die Polizei, das weiß ich, wird keinen Stein auf dem anderen lassen bei den Ermittlungen zur Klärung des Geschehens“, sagte May am Donnerstag zum Auftakt ihres Treffens mit Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin.