Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Heimweh – ein zweischneidiges Gefühl
Fernweh gilt als schick – die Sehnsucht nach dem Zuhause dagegen eher als verschämt verschwiegenes Tabu
So schön wie Theodor Fontane hat es kaum je wieder jemand formuliert. „Ich hab’ es getragen sieben Jahr,/und ich kann es nicht tragen mehr./Wo immer die Welt am schönsten war,/da war sie öd’ und leer“, klagt der verbannte Graf in Fontanes Ballade „Archibald Douglas“(1854). Ihn plagt die Sehnsucht nach seiner schottischen Heimat. Bis heute spielt Heimweh in Kunst und Kultur immer wieder eine Rolle – sei es Hildegard Knef, die in den 1960er-Jahren seufzend sang „Ich hab so Heimweh nach dem Kurfürstendamm, Berliner Tempo, Betrieb und Tamtam!“, sei es „E.T.“, der Außerirdische, der 1982 nichts lieber wollte als „nach Hause telefonieren“.
Glaubt man Werbung und Selbstdarstellung in sozialen Medien, scheint den modernen Menschen eher das Fernweh zu quälen, zumindest dann, wenn er gleichzeitig eine sichere, komfortable Heimat besitzt. Günstige Angebote für Fernreisen und traumhafte Fotos von weit entfernten Orten befeuern den Wunsch nach Alltagsflucht. Marion Sonnenmoser, Psychologin und Autorin des Buchs „Schluss mit Heimweh“, meint, dass Heim- und Fernweh sich keineswegs ausschließen. „Es gibt beides gleichermaßen. Das Fernweh ist allerdings Teil des Lifestyles, Heimweh dagegen tabuisiert.“
Kinder, die zum ersten Mal woanders übernachten, oder Jugendliche auf der ersten Auslandsreise: Sie sprechen zumeist offen darüber, wenn sie Heimweh haben. „Erwachsene können genauso leiden, äußern das aber nicht“, sagt Sonnenmoser. Dabei weiß die Stuttgarter Psychologin aus der Praxis, dass insbesondere viele Migranten oft an die verlassene Heimat denken. Auch Geschäftsreisende vermissten bisweilen – ja, was eigentlich? Den vertrauten Wohnort?
Heimweh kann sich auf fast alles beziehen. Selten geht es tatsächlich um eine Stadt oder ein Dorf, eher um das Elternhaus, das eigene Zimmer, Freunde, Partner oder das Haustier. Auch bestimmte Bräuche, Essen, Musik oder Landschaftselemente werden in der Ferne schmerzlich vermisst. Und manchmal drückt sich in Heimweh eine unbestimmte Melancholie aus, wie US-Autor E. W. Howe festgehalten hat: „Wenn Menschen gute Musik hören, werden sie krank vor Heimweh nach etwas, das sie nie hatten und nie haben werden.“
Psychologisch betrachtet ist Heimweh eine Anpassungsstörung. Im weiteren Sinne, betont Sonnenmoser: „Es sollte nicht pathologisiert werden. Heimweh ist eine normale Reaktion wie Liebeskummer, keine psychische Erkrankung.“Wer sich in einer neuen Umgebung gar nicht zurechtfindet, unter großem Kummer oder eingeschränkter Produktivität leidet, sollte sich natürlich Hilfe holen, fügt die Expertin hinzu.
Ob jemand an Heimweh leidet, hängt allerdings weder davon ab, wie weit man sich entfernt – noch davon, für wie lange. Wer eine Reise oder einen Jobwechsel mit Vorfreude antritt, hat es leichter als jemand, der sich nicht vorbereiten kann und womöglich unfreiwillig gehen muss.
Zudem gibt es, vereinfacht gesagt, zwei Typen von Menschen: diejenigen, die sich leicht verpflanzen lassen, und andere, denen das schwerfällt. „Manche Menschen sind extrovertiert, anpassungsfähig und offen für neue Erfahrungen. Sie finden sich in einer neuen Umgebung schnell zurecht“, erklärt Sonnenmoser. Typischerweise hätten diese Menschen früh gelernt, sich zu trennen, oder seien schon als Kinder viel gereist – und definierten Heimat eher über Personen als über einen bestimmten Ort. Andere seien introvertiert, häuslich, manchmal auch schüchtern. „Sie sind eher anfällig für Heimweh.“
Erstmals lässt sich der Begriff im Jahr 1651 nachweisen. 1688 beschrieb dann der Basler Arzt Johannes Hofer das Krankheitsbild „Nostalgia“, eine durch unbefriedigte Sehnsucht nach der Heimat begründete Melancholie, die insbesondere bei Soldaten festgestellt wurde. Im 18. Jahrhundert hieß es, der „Kuhreihen“– ein Lied, mit dem ursprünglich Kühe zum Melken angelockt wurden – löse Heimweh aus und verleite Soldaten zur Fahnenflucht. Daraus entstand das Gerücht, es sei Schweizern bei Todesstrafe verboten, den „Kuhreihen“zu singen oder zu spielen. Diese Geschichte griffen der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) und die Dichter der Romantik in „Des Knaben Wunderhorn“(1805-1808) auf.
Forschung zum Heimweh gibt es wenig. Soziologen beziehen den Begriff auf verlorene Gemeinschaften – insbesondere auf die Kindheit. Diesen Aspekt hat Edgar Reitz in seiner Film-Trilogie „Heimat“über den Hunsrück aufgegriffen. „Heimat als Besitz, als festen Anker hat es nie gegeben“, sagte der preisgekrönte Regisseur kürzlich der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Vielmehr entwickelten Kinder durch die Zuwendung der Eltern eine „Erinnerung der Geborgenheit und des Glücks“. Daran dächten Erwachsene oft mit Sehnsucht zurück.
Es liege genauso in der menschlichen Natur, „dass wir über die Horizonte hinaus wollen“, so Reitz, der als Fortsetzung seiner „Heimat“-Trilogie einen Film über die Auswandererwelle aus dem Hunsrück nach Brasilien Mitte des 19. Jahrhunderts drehte. Der Wunsch, eine andere, zweite Heimat in der Welt zu finden, ist für Auswanderer aller Zeiten immer ein starker Antrieb gewesen. Durch eine zunehmende Individualisierung und „Selbstoptimierungskultur“sei der Wunsch nach Zugehörigkeit zuletzt allerdings gewachsen. Vielleicht lässt die Beliebtheit
etwa von Lokalkrimis deshalb nicht nach. Ob das Herz für das Allgäu mit seinen kauzigen Typen schlägt, Hamburg „meine Perle“ist oder München der „Stern des Südens“– für fast alle Regionen gibt es Merchandising, mal augenzwinkernd, mal ganz ernsthaft getragen von denen, die es kaufen.
Psychologin Sonnenmoser sieht darin zu Teilen einen Gegenimpuls zu dem Ideal, die ganze Welt als Heimat zu betrachten. Seit den 1970erJahren gebe es beispielsweise weniger Heimatkunde-Unterricht an Schulen, sagt sie; Interessierte müssten sich über eine Region privat informieren. Wer allerdings ständig Bilder vom persönlichen Sehnsuchtsort heraufbeschwöre, der könne das Hier und Jetzt verpassen. Sinnvoller sei es, die eigenen Emotionen positiv zu beeinflussen, bewusst schöne Dinge zu unternehmen und aktiv zu werden. „Wichtig ist, sich auf das Neue einzulassen“, so ihr Tipp gegen allzu großes Heimweh.
Die inneren Bilder kann einem ohnehin niemand nehmen. „Da, wo wir wesentliche Zeiten unseres Lebens verbracht haben – und es gibt nichts Intensiveres als die Kindheit – setzen sich bestimmte Bilder in unserer Seele fest, die keinen abstrakten Begriff haben, die man nicht wirklich beschreiben und benennen kann“, so formuliert es Filmemacher Reitz. Wer an den Ort der Kindheit zurückkehre, erkenne etwas wieder. Das fühle sich bisweilen an, „als könne man das einmal verlorene Glück wiederfinden.“(kna)
Es sollte nicht pathologisiert werden. Heimweh ist eine normale Reaktion wie Liebeskummer, keine psychische Erkrankung. Marion Sonnenmoser, Psychologin Als könne man das einmal verlorene Glück wiederfinden. Edgar Reitz, Regisseur der Film-Trilogie „Heimat“