Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Südamerikas Flüchtlingskrise spitzt sich zu
Dutzende Brasilianer in der Grenzstadt Pacaraima haben am Wochenende mit Stöcken, Steinen und gar Schüssen venezolanische Migranten vertrieben und ihre Notunterkünfte angezündet. Videos zeigen, wie erzürnte Menschen Zelte in Brand setzen und „Haut ab nach Venezuela“rufen. Mindestens 1200 Migranten flohen zurück über die Grenze.
Auslöser der Wut war Medienberichten zufolge der Überfall auf einen brasilianischen Händler. Seine Familie machte dafür venezolanische Flüchtlinge verantwortlich. Es ist bisher der gewaltsamste Ausdruck des Widerstands gegen die Hunderttausende venezolanischen Flüchtlinge, die angesichts der schweren Wirtschaftskrise in ihrem Land seit zwei Jahren in anderen Staaten Südamerikas Zuflucht suchen, vor allem in den angrenzenden Ländern Kolumbien und Brasilien.
Laut UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR haben seit 2014 rund 1,5 Millionen Venezolaner ihr Land verlassen. Pacaraima im Bundesstaat Roraima hat 12 000 Einwohner, mindestens 1000 Venezolaner leben in Camps entlang der Straßen des Ortes. Die Gouverneurin von Roraima, Suely Campos, spricht von einem medizinischen Notstand in ihrem Staat, denn unzählige Venezolaner brauchen vor allem ärztliche Hilfe, bringen in Brasilien ihre Kinder zur Welt oder suchen Medikamente. Campos fordert immer wieder von der Zentralregierung in Brasilia eine vorübergehende Schließung der Grenze. Angesichts der Vorfälle in Pacaraima sagte Präsident Michel Temer die Entsendung von 60 Soldaten in den nordbrasilianischen Staat zu.
Venezuela steckt aufgrund von Misswirtschaft und Ölpreisverfall in einer historischen Wirtschaftskrise. Der Internationale Währungsfonds geht von einer Inflation von einer Million Prozent bis Ende des Jahres aus. Auf dem Schwarzmarkt kostet der Dollar 3,5 Millionen Bolívar. Am Wochenende erhöhte Präsident Nicolás Maduro den Mindestlohn auf 180 Millionen Bolívares, Gegenwert gerade mal 30 Dollar. Diese Woche will die Regierung in Caracas eine Währungsreform vornehmen und fünf Nullen streichen. Viele Geschäfte sind angesichts der Währungsumstellung verunsichert und wollen diese Woche nicht öffnen. Die Opposition plant für Dienstag einen Generalstreik gegen die Wirtschaftsmaßnahmen.
Viele Länder sind überfordert
Viele Länder Südamerikas sind überfordert mit den Hunderttausenden Menschen, die auf der Suche nach Schutz und Perspektive täglich die Grenzen überqueren. Am Wochenende schlossen Peru und Ecuador faktisch ihre Grenzen für venezolanische Flüchtlinge, indem beide Länder Passpflicht einführten. Nach Angaben der peruanischen Einwanderungsbehörden sind seit Mai rund 3000 Venezolaner täglich in Peru angekommen. Insgesamt befinden sich derzeit knapp 400 000 Venezolaner im Land, nur 70 000 von ihnen haben eine befristete Aufenthaltserlaubnis.
In Ecuador riefen die Behörden vergangene Woche in drei Grenzprovinzen zu Kolumbien wegen des Ansturms der Venezolaner den Notstand aus. 4000 Menschen aus Venezuela kommen angeblich jeden Tag über die Grenzen des Andenstaates. War es früher vor allem die Mittelklasse, die Venezuela in Richtung USA, Europa und Südamerika verließ, gehen jetzt die Armen, Mittelund Hoffnungslosen.