Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Den Schiffschaukelbremser gibt’s nicht mehr
Vor 200 Jahren fand zum ersten Mal das Cannstatter Volksfest statt – Seine Ursprünge gehen zurück auf eine Katastrophe
BAD CANNSTATT - Stefan Kinzler hat einen frommen Wunsch: „Man sollte den jungen Leuten zu verstehen geben, wo das Cannstatter Volksfest herkommt – aus Zeiten von Hunger und Not.“Gegründet sei es worden, um „Hoffnung und Optimismus zu verbreiten“. Nachdenkliche Worte, die nicht so recht zu Karussellspektakel, Bierzeltmusik, Achterbahngekreische und Vollrausch passen – zumindest nicht beim ersten Hören. Ebenso erstaunlich scheint, dass sie nicht ein Pfarrer sonntags von der Kanzel spricht. Kinzler ist Schausteller, einer der allerwichtigsten auf dem Wasen.
Wie es in der Familienüberlieferung heißt, sollen seine Vorfahren hier bereits vor 150 Jahren für Unterhaltung gesorgt haben. Der 54-jährige, robust gebaute Mann tut es immer noch. Die Hauptattraktion seines Unternehmens ist die Wilde Maus, ein bonbonfarbenes Gewirr aus Schienen und Gestängen. Es handelt sich um eine spezielle Achterbahn, die die Passagiere glauben macht, ihre Kabine würde ständig übers Gleis hinausschießen. „Der Superspaß ist garantiert“, meint Kinzler. Diese Gaudi zu gewährleisten, gehört zu seinem Job. Woher kommt dann die Nachdenklichkeit? Vielleicht aus dem Umstand, dass nur sehr wenige Menschen über das Einst und Jetzt des zweitgrößten deutschen Volksfestes so gut erzählen können wie er? „Ja, das mag schon sein“, sagt Kinzler. „Aus der Erfahrung heraus glaube ich wirklich, wir sollten viel mehr die Traditionen unseres Festes auf die Fahnen schreiben.“
Dass es den Wasen schon vor 200 Jahren das erste Mal gab, dürfte sich herumgesprochen haben. Zudem sind die entsprechenden Hinweise auf dem Festgelände am Neckar unübersehbar. Die Ursprünge des Festes lassen sich hingegen nur erahnen: zum einen aufgrund des benachbarten landwirtschaftlichen Hauptfestes, einer Art Messe – und dann vor allem aufgrund der hochaufragenden Fruchtsäule.
Sie ist Festsymbol und gleichzeitig Orientierungspunkt für die durchschnittlich vier Millionen Besucher, die jedes Jahr kommen. Verloren gegangene, heulende Kinder finden dort ihre Eltern wieder. Umherirrenden Zechern dient die Säule als Wegmarke zur S-Bahn, sollten sie tatsächlich heimwollen – oder sie dient ihnen als Kompass für die torkelnden Schritte zum nächsten Bierzelt. In Kreisen der heutigen Partygeneration wird zudem gerätselt, ob das Gebilde nicht etwa einen verfremdeten Phallus darstellt. Der Blick auf den Schmuck aus Kartoffeln, Mais und anderen Erzeugnissen des heimischen Bodens weist aber die Richtung der ursprünglichen Idee. Es geht um Erntedank. Und damit nähert man sich dem tieferen Sinn von Kinzlers Worten über Hunger und Not an.
Die Spur führt zurück ins Jahr 1815. In Indonesien explodierte der Vulkan Tambora. Unmengen von Staub wurden in die Atmosphäre geschleudert. Er legte sich über weite Gegenden der Erdkugel und verstärkte bereits vorhandene negative Klimaeffekte. So kam es ein Jahr später in Europa zum legendären Jahr ohne Sommer. Regen und Kälte herrschten. Kein Getreide reifte, Kartoffeln verrotteten. Württemberg gehörte zu jenen Landstrichen, in denen die Menschen die größte Hungersnot des 19. Jahrhunderts erlebten. In Stuttgart regierte seinerzeit König Wilhelm I., anders als sein extrem korpulenter Vorgänger ein reformfreudiger Monarch, wie sich zeigen sollte. Die Modernisierung der Landwirtschaft sollte sein kleines, ärmliches Reich nach vorne bringen. In diesem Zusammenhang rief Wilhelm 1818 auch ein „jährlich am 28. September zu Cannstatt abzuhaltendes landwirtschaftliches Fest“ins Leben.
Kleinste Anfänge
Anfangs währte das bunte Treiben nur einen Tag lang – und nicht knapp zweieinhalb Wochen wie in der Gegenwart. Es fand auf einer feuchten Wiese, einem Wasen, statt. Deshalb spricht der Volksmund auch gerne vom Cannstatter Wasen, wenn das Volksfest gemeint ist. Heutzutage sind aber höchstens noch die Kehlen der Gäste feucht – vorausgesetzt, sie wollen sich eine Maß Bier für über zehn Euro gönnen. Genug tun dies ja.
Hier sieht Kinzler jedoch einen Wandel – sinnigerweise zurück zu einem älteren Wasen-Geist: „Gerade in den Bierzelten scheint der reine Partygedanke an Reiz zu verlieren.“Damit meint er, dass bei jungen Besuchern Kampftrinken bereits zu früher Stunde und ohrenbetäubender Musiklärm an Attraktivität einbüßten – zugunsten von mehr Spaß mit den Fahrgeschäften. Die Burschen, so Kinzlers Beobachtung, würden der Liebsten weniger zuprosten, dafür mit ihr lieber eng umschlungen im Boxauto sitzen – wie einst eben.
Sollte es wirklich so sein, wäre dies eine Gegenentwicklung zur großen Konkurrenz in München, der Wiesn. Dort stehen Möglichst-vielBiertrinken und das ewige Prosit der Gemütlichkeit traditionell im Mittelpunkt des festlichen Treibens. „Unser Volksfest war aber immer schon mehr ein Fest der Schausteller“, berichtet Kinzler. Der Wasen beansprucht sogar ganz offiziell den Titel „Größtes Schaustellerfest Europas“. Rund 400 Einzelbetriebe sind heuer wieder gemeldet: vom Bierzelt übers Riesenrad bis zur Zuckerwatte-Bude.
Ist alles in Funktion, blinken überall bunte Lichter. Ansager von Fahrgeschäften werben lauthals per Mikrofon für ihre „Weltsensation“, selbst wenn es nur im Kreis herumgeht. Oder sie beschreiben wie eh und je den Schrecken der Geisterbahn, auch wenn heutzutage viele jugendfreie Internetspiele fürchterlicher sind. Um die Ecke duftet es nach dem unvermeidlichen Magenbrot, dem typisch schwäbischen Lebkuchengebäck. Die Liste der Eindrücke ließe sich locker verlängern. Spaziert der Autor, ein aus der Neckarregion stammender Mittfünfziger, über das 25 Hektar große Festgelände, gehen ihm rasch nostalgische Erinnerungen durch den Kopf.
Im Bubenalter Ende der 60er-Jahre war der Wasen ein fester Posten im jährlichen Festkalender – neben Kindergeburtstag, Weihnachten und Ostern. Die Eltern nahmen einen an die Hand. Zig Karusselle lockten. Der Vater musste an der Schießbude
„Unser Volksfest war immer schon mehr ein Fest der Schausteller.“Stefan Kinzler, Schaustellerurgestein
einen minderwertigen Schraubenzieher für die Kinderwerkzeugsammlung des Filius schießen. Am Schluss gab es im Bierzelt für alle noch ein Göckele, also ein Grillhühnchen, seinerzeit allgemein GummiAdler genannt, weil gefühlt genau von dieser Konsistenz.
Aber das ist Geschichte. Die Verpflegung hat Fortschritte gemacht. Vieles andere ist auch nicht so geblieben wie vor einem halben Jahrhundert. Der altgediente Schausteller Kinzler nennt die Schiffschaukel. Oft wurde ehedem damit der schweißtreibende, muskelbetriebene Überschlag versucht, um die Freundin zu beeindrucken. Heutzutage hat sie auf dem Volksfest keinen Platz mehr. „Für die Schiffschaukel braucht es zu viel Personal fürs Anschieben und Abbremsen. Preislich kann man nicht viel verlangen. Damit ist kaum etwas verdient“, rechnet Kinzler vor. Schade, damit ist auf dem Wasen der ehrenwerte Beruf des Schiffschaukelbremsers ausgestorben.
Höher, schneller, weiter
„Auch bei uns hat die Technik eben viel verändert“, erzählt Kinzler. Bei den Fahrgeschäften gilt oft das olympische Motto: höher, schneller, weiter. Die Elektrotechnik hat in den 90er-Jahren den Topspin möglich gemacht, einen Fahrgeschäftstyp, bei dem sich die Insassen mit ihren Sitzen immer wieder bis an die Grenze des Erbrechens überschlagen. „Um die Jahrtausendwende herum“, meint der Wasenveteran, „kamen schließlich die Freifalltürme.“
Gleich hinter seiner WildenMaus-Achterbahn steht so ein Ungetüm. Zentral ist die Magnettechnik. Sie erlaubt es, die herabsausenden Gondeln vor einem Aufschlag unfallfrei zu bremsen – üblicherweise begleitet von wildem Gekreische der Insassen. Hauptsache Spaß. Das Vergnügen suchen die Gäste übrigens auch auf dem Wasen seit zehn oder 15 Jahren immer mehr in Trachtenlederhose oder Dirndl. Diese Bajuwarisierung der Feste hat vor Cannstatt nicht haltgemacht. Spötter gießen gerne Häme über Herren aus, bei denen aus der krachledernen Kniebundhose zwei bleiche Spargelwaden hervorragen.
„Ein gestandenes Mannsbild sieht anders aus“, ätzt etwa Kinzler. Wobei es ihm prinzipiell gefällt, wenn sich Leute für den Wasen besonders kleiden. „Das hebt den Wert des Festes“, glaubt er. Die Wurzeln der Feierei könnten dann besser vermittelt werden, schließt Kinzler den Kreis zu seinem frommen Wunsch der Traditionspflege. Indes lässt ein Bierzeltwirt auf seinem Programmplakat weit jenseits solcher Überlegungen gleich einmal die heimische Sprache unter den Tisch fallen. Englisch ist angesagt: „Thank God It’s Friday“, heißt es zum freitäglichen Unterhaltungspunkt. Vermutlich verstehen dies heutzutage mehr Besucher als den alten schwäbischen Volksfestklassiker „Uff em Wasa graset Hasa ond em Necker gambet Fisch“.