Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
„Hass stellt heute eine große Bedrohung dar“
Wissenschaftler sieht Parallelen zu heute
Der Historiker Gerd Krumeich zieht im im Interview mit der Deutschen Presseagentur einen Vergleich zwischen den Zeiten Ende des Ersten Weltkrieges und heute. Er warnt davor, dass Hass zur Bedrohung für eine Gesellschaft werden kann – damals wie heute.
In Ihrem neuen Buch fragen Sie, ob ohne die Novemberrevolution vor hundert Jahren Deutschland einen besseren Frieden nach dem Ersten Weltkrieg hätte aushandeln können. Wie lautet Ihre Antwort?
Die Revolution hat dazu beigetragen, dass der Waffenstillstand „de facto“zu einer ziemlich bedingungslosen Kapitulation wurde. Als es zur Unterschrift des Waffenstillstands am 11. November in Compiègne kam, wussten die Alliierten genau, dass Matthias Erzberger, der deutsche Unterhändler, nichts mehr zu verhandeln hatte. Deswegen, weil inzwischen überall in Deutschland die Revolution ausgebrochen war. Somit konnten die Deutschen nicht mehr in den Krieg zurückkehren und hatten keinen Verhandlungsspielraum. Ohne die Revolution wäre das vielleicht möglich gewesen. Seit der Revolution war es auf jeden Fall überhaupt nicht mehr möglich.
Hätten denn die Deutschen weiter Krieg führen können?
Die deutsche Armee war vollständig ausgelaugt, in Auflösung begriffen. Aber sie war noch nicht „geschlagen“, es hatte noch keine offensichtlich entscheidende Niederlage gegeben. Hätte sie, wie man damals sagte, Positionen „im Feindesland“halten und diese Tatsache mit einem Angebot auf Frieden verbinden können, wäre es für die Alliierten sehr schwer geworden, weiter zu kämpfen. Denn die alliierten Soldaten wollten auch nicht mehr.
Was für Menschen kamen aus dem Krieg nach Hause?
Gegen Ende des Krieges waren immer noch sechs bis sieben Millionen Mann an der Westfront. Die Soldaten erwarteten nach den Jahren des Leidens und Sterbens, dass die Heimat sie in Ehren empfängt. Inwieweit sie wirklich ehrenvoll empfangen worden sind, darüber streiten die Historiker. Aber überall wurde den Soldaten beruhigend entgegengerufen: „Euch hat kein Feind besiegt“, wie Friedrich Ebert in Berlin, aber auch (Kurt) Eisner in München es ausdrückten. Aber dann hat die Republik es unterlassen, den Soldaten die Ehren zu erweisen, auf die sie wegen ihres großen Opfers Anspruch erhoben.
Gibt es eine Entwicklung, die Ihnen angesichts Ihrer Erkenntnisse heute Sorge bereitet?
Der schwärende Hass. Zeitgenössische Beobachter wie Hannah Arendt haben schon dieses grimmige Schweigen der Deutschen festgestellt, das man als eine regelrechte „Verbitterungsstörung“bezeichnen kann. Dieser aus allen Fugen der Gesellschaft ausbrechende Hass, der irgendetwas sucht, um eine neue Gestalt zu gewinnen – das ist nah an dem, was wir heute erleben. Hass stellt heute eine besonders große Bedrohung dar, weil er sich propagieren lässt durch gar nicht kontrollierbare Kanäle. Jemand ruft zu etwas auf, und plötzlich stehen da 6000 oder 10 000 Menschen, die eine Stunde vorher noch nicht wussten, dass sie da stehen würden. Das erinnert mich immer stärker an die Weimarer Situation. Ich stell’ mir vor, die hätten damals E-Mail und Twitter gehabt …