Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
„Ein Glück, dass ich in Isny aufwachsen durfte“
Neubürger der 1950er-Jahre erzählen über ihre Erfahrungen in der „neuen Heimat Isny“
ISNY - Beim letzten ErinnerungsCafé 2018 im Rahmen des Projekts „Panorama-Partner“der städtischen Isnyer Museen ging es um das Ergehen der Isnyer Neubürger in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. „Sie alle sind für uns Heutige die Zeitzeugen von damals“, begrüßte Museumsleiterin Ute Seibold die Gäste in der Unteren Mühle. „Wir würden gerne von Ihnen wissen, aus welchem Grund auch immer Sie damals zugezogen sind und wie insbesondere Flüchtlinge und Heimatvertriebene die zugewiesene Heimat erlebt haben?“
Ein munteres Erzählen entspann sich: über die Wohnungsnot damals, Neubausiedlungen, die Erfahrungen mit Bürgermeister Karl-Wilhelm Heck und sein Rathaus überhaupt, über die französische Besatzungszeit, über Evangelische und Katholiken. Sollten alle Redebeiträge zusammengefasst werden, trügen sie die Überschrift: „Ungeliebte Vertriebene wurden zu geschätzten Neubürgern“; oder, wie Edith Rauneker persönlicher formulierte: „Ein Glück, dass ich hier in Isny aufwachsen durfte.“
Walter Bühler, ein „Vertriebener“der Bombenangriffe auf Stuttgart, kam mit dem Architekturbüro Gabler-Morlok nach Isny und war Bauleiter am entstehenden VersehrtenSportsanatorium, in dem aus Krieg und Gefangenschaft zurückkehrende Männer eine vorübergehende Bleibe fanden, eine Art Rehabilitation.
In drastischen Nuancen schilderte der bald 91-Jährige zudem den damaligen Bürgermeister Heck: „Eigenwillig, spontan, unabgestimmt, stockautoritär“, sei der gewesen, „so ein Bürgermeister könnte sich heute nicht lange halten.“
Roswita Steybe, die nach Isny eingeheiratet hatte, konnte dazu konkretisieren, dass Heck ihr und ihrem Mann einen Bauplatz zugewiesen habe: „Als der Bagger begann, die Baugrube auszuheben, kam der Eigentümer und hat uns fortgeschickt. Wir haben dann einen anderen Platz zugewiesen bekommen.“Bühler ergänzte zum Wohnungsnot- und BauDrama, dass das Kanalnetz weitgehend noch gefehlt habe, und wo es Abwasserkanäle gab, seien sie zu klein dimensioniert gewesen.
Anne-Rose Schlagentweith kam aus Ostfriesland der Liebe wegen nach Isny. „Braucht denn der Schlagentweith eine aus dem Norden? Gibt’s denn in Isny net gnug schene Mädle? Ond isch se denn wenigstens evangelisch?“– So in etwa sei über sie in den ersten Jahren gesprochen worden. Und: „Ich war schon einige Jahre hier, da sagte doch einer in einer Versammlung: ,Die soll doch ihr Maul halten, die reingeschmeckte Tante’.“Einige tapfere Frauen seien dem so Urteilenden dann aber an den Kragen gegangen, schloss Schlagentweith.
Gerdi Erler kam als kleines Mädchen mit ihrer aus Böhmen vertriebenen Familie nach Isny. Der Treck habe auf einem Pferdefuhrwerk begonnen. Weil der Vater zu Hause Gutsverwalter bei Adligen war, habe er beim Fürsten von Quadt im Forst eine Anstellung gefunden. Die ihnen in Isny zugewiesene Sozialwohnung sei eiskalt gewesen, für drei Familien habe es eine Küche und im Keller für alle einen Badzuber gegeben. „Bis wir endlich 1968 im Hochhaus einziehen konnten – es war trotzdem eine
Walter Bühler (90) über den einstigen Isnyer Bürgermeister Karl-Wilhelm Heck
schöne Kindheit“, erinnerte sich Erler.
Die vorwiegend ungarndeutschen Heimatvertriebenen in der „Paprikasiedlung“, oder auch „Kopftuchsiedlung“, wie Kleinhaslach damals genannt worden sei, seien vorbildliche Selbstversorger gewesen mit Hasen, Hühnern, Schweinen und Gemüsegärten. „Deren Kinder hatten gute, selbst gemachte Leberwurst auf ihrem Schulbrot – und wir nur Marmelade. Da haben wir das Vesper oft getauscht. So gut war die Kameradschaft mit den Fremden“, erinnerte sich ein Zeitzeuge.
Andere fügten hinzu, dass Fremde wie Einheimische arm gewesen seien, in vielen Bereichen sei gegenseitig getauscht und einander geholfen worden. Doch auch Neid auf die Neuen habe es gegeben, weil diese Bezugsscheine bekamen und sich damit etwas Neues kaufen konnten.
Brigitte Patzner kam als kleines Mädchen mit ihrer Familie aus Danzig über einige Flüchtlingslager-Stationen nach Isny. Ihr wurde Unterschlupf in einer Isnyer Ortschaft auf einem Bauernhof in einem eiskalten Zimmer zugewiesenen: „Zur Erstversorgung hat uns der Bauer drei Kartoffeln hingelegt für unsere ganze Familie.“Die Mutter sei „auf Stöhr“gegangen und habe als Schneiderin auf Höfen gearbeitet, mit ihrem „Lohn“und mit Bezugsscheinen sei die Familie irgendwie durchgekommen.
„Eigenwillig, spontan, unabgestimmt, stockautoritär.“
Zwischen 1939 und 1943 wurden rund 15 Millionen Menschen und zwischen 1944 und 1948 rund 31 Millionen zeitweise oder für immer zwangsweise umgesiedelt oder vertrieben. (ws)