Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Wenn Eltern die Welt nicht mehr verstehen
Brechen Kinder unvermittelt den Kontakt ab, sind der Schmerz und die Scham bei den Betroffenen groß
Diese eine Frage stellt sich Waltraud D. immer wieder: „Was haben wir anders gemacht als andere Familien, die normal zusammenleben?“Ihre Tochter lehnt jeden Kontakt zu ihr und ihrem Mann ab. Warum genau, weiß sie nicht. Gut – dass sie eher der Typ Glucke ist, ist ihr bewusst. Sie hat ihre Tochter nachts vom S-Bahnhof abgeholt, wenn sie mit Freunden unterwegs war. Und sie hat ihr noch den Kleiderschrank akkurat aufgeräumt, als die Tochter schon in der Pubertät war. Doch ist das Grund genug, gar nichts mehr von ihr wissen zu wollen? „Andere Kinder erleben viel schlimmere Dinge und brechen trotzdem nicht mit ihren Eltern“, sagt sie ratlos.
Waltraud D. ist eine von fünf Frauen, die sich an einem Abend in einem Raum in der Inneren Mission in München treffen, um über ihre Erfahrungen als verlassene Eltern zu sprechen. Mit allen ist Anonymität vereinbart, denn was sie erzählen, ist sehr persönlich. Etwas, das viele von ihnen noch immer im Bekannten-, teils sogar im Verwandtenkreis verschweigen. Weil die Scham so groß ist. Und die Angst, dass Außenstehende doch nur denken: „Irgendwas Schlimmes wirst du schon gemacht haben.“
Deshalb gibt es auch keine Zahlen, wie viele Eltern betroffen sind. Doch es passiert häufiger, als man gemeinhin annehmen möchte. „Die wenigsten wissen, dass es so viele Leidensgefährten gibt“, sagt Inge S. Selbst betroffen, rief sie vor gut einem Jahr die Selbsthilfegruppe in München ins Leben. Nach einer kurzen Anlaufzeit stieg die Nachfrage extrem an. Auch in anderen süddeutschen Städten gibt es Selbsthilfegruppen: in Meitingen nördlich von Augsburg, in Nürnberg und im oberfränkischen Ebermannstadt. Im November eröffnete außerdem in Konstanz eine Gruppe für die Bodenseeregion.
Meist sind es Frauen, die zu den monatlichen Treffen kommen, sagt Inge S. Sie alle eint, dass sie nicht mehr allein sein wollen mit ihrem Schmerz. „Für mich ist wichtig, mit Menschen zu sprechen, die mich verstehen“, sagt Johanna M. Sie ist 52 Jahre alt, wirkt mit ihren blondierten Haaren und Tattoos aber wesentlich jünger. Sie hat zwei Töchter. Eine wohnt noch bei ihr. Die andere hat jeglichen Kontakt abgebrochen, als sie fürs Studium das Haus verließ. Sie schmetterte ihr lediglich diesen einen Satz hin: „Seit ich da bin, fühle ich mich schuldig.“Der kreist seitdem in ihrem Kopf. Was hat sie falsch gemacht? Wie konnte es so weit kommen? Die Frage steht an dem Abend immer wieder im Raum. Bis auf Inge K., deren Söhne sich nach der überraschenden Trennung von ihrem Mann abwandten, kann
„Die Wenigsten wissen, dass es so viele Leidensgefährten gibt.“Inge S., verlassene Mutter und Leiterin einer Selbsthilfegruppe
sie niemand beantworten. Allenfalls eine Ahnung haben die Frauen. Doch das ist nicht genug, um die bohrenden Fragen aus dem Kopf zu kriegen.
Johanna M. weiß, dass der Bruch mit ihrer schwierigen Ehe zu tun hat und dass sie manchmal schwer zu ertragen war. Inzwischen lebt sie getrennt von ihrem Mann, doch den Schritt habe sie viel zu spät getan, sagt sie. Wenngleich sie sich nichts sehnlicher wünscht, als wieder Kontakt mit der Tochter zu haben, ist es ihr großes Ziel loslassen zu können. „Das heißt ja nicht, dass mir mein Kind egal ist, sondern dass ich es loslassen kann“, sagt sie. „Nur: Was kann ich tun, damit ich das Loslassen wirklich leben kann?“
Eine Frage, die sich auch die anderen stellen. „Egal, was ich unternehme, die Ohnmacht holt mich immer wieder ein“, sagt Renate S., dunkle Locken, freundliche Augen. Ihre Tochter, inzwischen 30, ist vor fünf Jahren umgezogen. Sie kündigte noch an, alle bald zur Einweihungsfeier einzuladen. Es war das Letzte, was die Familie von ihr gehört hat. Auch mit den Freunden hat die junge Frau gebrochen. Über einen Privatdetektiv fand Renate S. heraus, dass die Tochter mit einem Arzt zusammenlebt. Sie befürchtet, er könne sie in eine Sekte eingeführt haben. „Wenn sie doch nur einmal sagen würde, dass es ihre eigene Entscheidung war, den Kontakt abzubrechen“, sagt Renate S. Inzwischen ist sie Oma, das Kind kennt sie aber nicht. „Ich sehe nur noch Omas mit ihren Enkelkindern. Das verfolgt mich.“
Nicht immer geht es bei den Treffen allein ums Reden. Inge S. will demnächst mit einer Psychologin Workshops anbieten zu Themen wie Loslassen oder Dankbarkeit. Und jüngst war eine Frau zu Gast, die ihrerseits von heute auf morgen mit ihrer Mutter gebrochen hatte und der Runde ihre Gründe darlegte. Sie habe ihre Mutter als dominant empfunden und sich nicht geliebt gefühlt, schilderte sie. „Das gibt mir Hoffnung“, sagt Waltraud D. „Ich war vielleicht mal übergriffig, habe zu viel geliebt. Aber immerhin liebe ich.“
Jochen Rögelein kennt solche Geschichten zur Genüge. Er ist systemischer Familientherapeut in München. Oft kämen zu ihm Klienten wegen anderer Probleme, erzählt er. Im Gesprächsverlauf stelle sich dann heraus, dass zu einem Kind – bisweilen auch Geschwistern – keinerlei Kontakt mehr bestehe. „Meistens gibt es kein zentrales Thema oder Ereignis, worauf man den Bruch zurückführen kann“, sagt er. „Es bahnt sich über lange Zeit an, als chronischer Konflikt, der in der Wahrnehmung des Kindes nicht lösbar ist.“
Häufig geht es nach seiner Erfahrung um Verständnis und Akzeptanz: Dass das Kind das Gefühl hat, die Eltern erkennen nicht, wer es ist, dass sie sich trotz fortgeschrittenen Alters vor der elterlichen Fürsorge nicht retten können – oder auch, dass sie glauben, dass sich die Eltern nicht für sie interessieren. „Bei einer Freundschaft würde man sagen: Der oder die tut mir nicht gut. Deshalb ist ein weiterer Kontakt nicht sinnvoll.“
Rögelein hält es nicht für zielführend „loszulassen“. Zumindest nicht in dem Sinne, dass man das Kind auch nicht mehr beachtet. „Die Gefahr ist, dass es dann das Gefühl hat, egal geworden zu sein. Aber kein Kind verlässt die Eltern gerne. Es geht aus einer inneren Not heraus.“In Wirklichkeit wolle in der Regel auch das Kind zurück; allerdings nur, wenn sich die Eltern verändert haben und es dies spürt.
Rögelein empfiehlt daher professionelle Hilfe. Wenn das Kind den direkten Kontakt mit den Eltern ablehne, könne ein Therapeut als neutrale Person zu einem Gespräch einladen, bei dem das Kind seine Sicht darlegen kann. Ohne Eltern. „Das wird selten ausgeschlagen. Denn jeder habe das Bedürfnis, Konflikte zu lösen.“
„Egal, was ich unternehme, die Ohnmacht holt mich immer wieder ein.“Renate S., deren Tochter sich seit fünf Jahren nicht mehr gemeldet hat
Danach könne man absehen, inwiefern eine Annäherung möglich sei. „Schnelle Lösungen gibt es nicht“, sagt Rögelein. „Erst muss ein Prozess des Verstehens eingeleitet werden.“Was ihm wichtig ist: „Dabei geht es nicht um Schuldfragen. Es geht allein um das Verstehen der Zusammenhänge und der Verantwortung.“
Ein Anliegen, das auch Marion Hendreich am Herzen liegt. Sie hat Ende November eine Selbsthilfegruppe für verlassene Eltern am Bodensee eröffnet und keine Scheu, ihren Namen zu nennen. „Ich bin inzwischen so weit, dass ich offen damit umgehe“, sagt die 62 Jahre alte Frau. Ihr Anliegen ist vor allem, verlassenen Eltern zu zeigen, dass es die Möglichkeit zum Austausch gibt. „Anfangs stehst du ja unter Schock und bekommst nichts anderes mit.“
Hendreich hat zwei Söhne, der jüngere hat vor etwa drei Jahren den Kontakt zu ihr abgebrochen, kurz nach der Geburt des ersten Enkels. Besonders bitter ist, dass er gleichzeitig Kontakt zu seinem Vater aufnahm. Der hatte die Familie verlassen, als Hendreich mit dem jüngeren Sohn im fünften Monat schwanger war. Und jetzt ist er es, der mit Sohn und Enkel Weihnachten feiert.
Die genauen Beweggründe ihres Sohnes kennt Hendreich nicht. Sie glaubt aber, dass er sich im Grunde schon in der Pubertät von ihr verabschiedet hat und sie gar nicht richtig kennt. „Ich würde mir wünschen, dass er sich Zeit nähme, mich wirklich kennenzulernen“, sagt sie. Das wünsche sie jedem Kind, das seine Eltern verlässt.
Der Schmerz dauert an. Doch immerhin hat er auch eine positive Entwicklung bewirkt: Die Beziehung zur eigenen Mutter ist intensiver geworden. „Dadurch, dass ich das Schweigen meines Sohnes erlebe, kann ich ihr jetzt offen sagen, was ich von ihr möchte und was ein Problem für mich ist“, sagt Hendreich. Und auch ihre Mutter erzähle nun mehr von sich.
Jeden zweiten Monat bietet Hendreich, die inzwischen auch eine Ausbildung zum Coach absolviert hat, ein Treffen im Landratsamt in Konstanz an. Da vielen interessierten Betroffenen der Weg zu weit ist, eröffnete sie parallel die Möglichkeit zum Onlinetreff via Zoom, einem Skype-ähnlichen Dienst, bei dem sich die Teilnehmenden auf dem Bildschirm sehen.
Mehr Informationen über die Bodensee-Selbsthilfegruppe gibt es unter: www.facebook.com/ groupsverlasseneelternundgrosseltern/. Weitere Adressen finden Sie unter: www.consolare.de/ index.php/selbsthilfegruppen.