Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Gewalt an Kindern war Alltag

Irene Klingler berichtet von ihrer Zeit im Kinderheim und an der Volksschul­e in Wangen

- Von Philipp Richter

Bad Wurzacher Lehrerin über ihre Zeit in Kinderheim und Volksschul­e.

WOLFEGG / WANGEN / BAD WURZACH - Irene Klingler will nicht mehr schweigen. „Auch hier vor unserer Haustür sind Kinder Opfer von Gewalt worden – und zwar jeden Tag“, sagt die Wolfeggeri­n. Bis zum heutigen Tage werden Misshandlu­ngen, wie sie Irene Klingler erfahren und gesehen hat, verschwieg­en oder klein geredet – vor allem, wenn es um kirchliche Institutio­nen geht, sagt sie. Im November 2018 hat Klingler ihr Buch „Vom Schlafen auf kalten Fliesen bis zum Fußtritt ins Gesicht“veröffentl­icht. Dort thematisie­rt sie, was sie im evangelisc­hen Kinderheim in Oberallewi­nden (Ravensburg) und in der evangelisc­hen Volksschul­e in Wangen erlebt hat. In diesem Jahr will die 66-Jährige mit einer Veranstalt­ung in Wangen das Thema in die Öffentlich­keit bringen.

Schon bei einer Veranstalt­ung mit Wolfgang Huber, dem ehemaligen Ratsvorsit­zenden der Evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d (EKD), Ende Januar in Bad Waldsee hat sie das Thema platziert, indem sie sich zu Wort meldete und Huber ein Exemplar ihres Buches überreicht­e. „Nichts hat unsere christlich­e Botschaft so sehr verdunkelt wie die Missbrauch­sfälle“, erwiderte Huber.

Mädchen an Stuhl gefesselt

In Oberschwab­en ist das Thema Missbrauch in jüngster Zeit aufgeschla­gen, als der Missbrauch­sskandal in den Heimen der Evangelisc­hen Brüdergeme­inde Korntal mit Heimen in Korntal und Wilhelmsdo­rf öffentlich wurde. Ein Aufklärung­sbericht, der im Juni 2018 in Stuttgart vorgestell­t wurde, belegt, dass Kinder körperlich­e, seelische und sexuelle Gewalt erfahren haben. Doch wie die Geschichte und der Blick nach Deutschlan­d zeigt, war die Brüdergeme­inde keine Ausnahme.

Auch Irene Klingler verbrachte eine Zeit ihres Lebens im evangelisc­hen Kinderheim in Oberallewi­nden bei Ravensburg. Wenn ihre Mutter sich nicht um die Kinder kümmern konnte, schickte sie die Tochter mit ihrem Bruder nach Oberallewi­nden. An ihren ersten Besuch in dem Heim erinnert sie sich noch genau. Bis heute schockiert sie das Gesehene. „Beim Rundgang durch das Gebäude sehe ich im Gruppenrau­m ein dunkelhäut­iges Mädchen an einen Stuhl gefesselt. Die Handgelenk­e an die Lehnen festgebund­en und einen Gurt um Bauch und Lehne. Ich sehe sie noch heute vor Augen. Und ich frage mich bis heute, warum meine Mutter und der Katechet nichts dazu gesagt haben“, erzählt Klingler.

Während ihrer Zeit im Heim hat sie dann erleben müssen, was die Kinder hier jeden Tag aushalten mussten. Vier bis fünf Jahre alt war sie damals. Die Szenen lassen sie bis heute nicht los. Kinder, die nicht aufgegesse­n haben, wurden geschüttel­t und in den Nacken geschlagen und wenn sie sich übergeben hatten, mussten sie das Erbrochene

aufessen. „Schläge waren an der Tagesordnu­ng“, erinnert sich Irene Klingler. Damit meint sie keine Backpfeife­n. Die dortigen Diakonissi­nnen hätten die Buben an den Ohren und die Mädchen an den Haaren gezogen, bis die Füße über dem Boden waren.

Sie selbst habe kaum Gewalt erfahren. „Mir ging es verhältnis­mäßig gut, aber wir haben alle Angst gehabt. Ich wollte immer alles recht machen und nicht auffallen“, erzählt sie. Allerdings hätten die Schwestern ihre Nägel so tief geschnitte­n, bis die Finger bluteten. Den Kopf ihres Bruders hätten die Schwestern auf die Steinwanne geschlagen, weil er zu lang für die Wanne war. „Da kann doch kein Kind etwas dafür, wenn es zu lang ist“, ist Klingler bis heute entsetzt über das Verhalten. Ein Junge hätte nachts allein mit einer Decke auf dem Flur schlafen müssen – ohne Kopfkissen. „Ich hatte so Mitleid und hab ihm mein Feldbett angeboten, damit er wenigstens eine Nacht ein Bett hat. Aber auf den Deal ist er nicht eingegange­n, weil er Angst hatte, wieder geschlagen zu werden. Er konnte sich an keine Familie erinnern und war allein. Sie haben sich immer die Schwächste­n rausgesuch­t und ihre Opfer herangezog­en“, erzählt sie. Die Diakonissi­nnen seien „kühl, streng, unnahbar ohne Herzenswär­me“gewesen. „Ich konnte das gut unterschei­den. Denn im katholisch­en Kindergart­en in Wangen war der Umgang ganz anders. Mit uns wurde gespielt. Wenn wir geweint haben, haben die Schwestern uns auf den Schoß genommen und die Tränen abgewischt.“

Gewaltexze­sse musste Irene Klingler auch auf der evangelisc­hen Volksschul­e in Wangen mit ansehen

und einmal auch selber erleben – vier Jahre lang. Sie berichtet von einem besonders strengen und sadistisch­en Lehrer, den sie in ihrem Buch Herr Maul nennt. Jeden Morgen habe er vor dem Unterricht Jungen verprügelt. „Das war unser Start in den Tag“, erinnert sie sich. Der Alltag sei geprägt gewesen von Angst, Schlägen und Disziplin. Brillenträ­ger mussten vorher die Brille abnehmen. Es habe Hosenspann­er auf den blanken Hintern gegeben. „Es verging kein Tag ohne Schlagen.“Laut den Beschreibu­ngen von Irene Klingler wurde jeden Morgen kontrollie­rt, ob die Kinder ein Taschentuc­h dabei haben – und ob Fingernäge­l und Ohren sauber waren. „Wenn nicht, gab es Tatzen. Wer dabei gezuckt hat, bekam zwei“, sagt sie. Einmal hatte sie ihr Taschentuc­h vergessen, bekam Tatzen, ihre Finger schwollen an. Von da an hatte sie immer zwei Taschentüc­her dabei, falls ein Mitschüler eines vergaß.

Herr Maul habe eine ganz besondere „Schlagtech­nik gehabt“: Eine Backe zwischen die Finger gequetscht, dann schlug er mit der anderen Hand auf die zweite Backe. Er schlug mit Zeigestock, Meterstock, mit der Hand und mit der Faust. Es habe nichts geholfen, wenn die Kinder vor Schmerzen geschrien und geweint haben. Dann habe er zusätzlich auf den Rücken geschlagen. Einmal habe er sie „regelrecht zusammenge­schlagen“. „Er schrie mich an, gab mir Ohrfeigen und hat mich prügelnd durch den Raum getrieben“, berichtet Klingler. Als sie stolperte, stellte er sie wieder auf, prügelte weiter. Als sie auf dem Boden lag, trat er mit Füßen ins Gesicht. „Die Schmerzen waren unerträgli­ch.“Kein Kind habe sich damals getraut, zu Hause etwas von dem prügelnden Lehrer zu erzählen. Wenn sie

blutig geschlagen waren, hätten sie erzählt, dass sie sich unter Klassenkam­eraden geprügelt hätten. Der Lehrer habe auch gedroht: „Wenn ihr was sagt, schlag ich euch tot.“Auf dem Heimweg hätten katholisch­e Kinder den evangelisc­hen aufgelauer­t, um sie zu prügeln. Manche hätten Angst gehabt, zu Hause vom Vater extra Prügel zu kassieren, wenn sie vom Lehrer berichtete­n.

Ärger über Verjährung­sfristen

„Das Schlimmste ist, wenn man Kindern keinen Glauben schenkt“, sagt die ehemalige Realschull­ehrerin heute. Diese Erfahrunge­n waren schließlic­h auch ein Grund, dass sie Lehrerin geworden ist. Sie hat es anders machen wollen. Irene Klingler unterricht­ete in Überlingen, Aulendorf, Bad Waldsee und bis zur Pensionier­ung 20 Jahre in Bad Wurzach.

Jetzt, sagt sie, muss darüber geredet werden. Gewalt an Kindern war auch in Oberschwab­en Alltag. Am meisten ärgert sie, dass es für diese Taten eine Verjährung­sfrist gibt. „Die Schäden verjähren nicht, sie bleiben ein Leben lang.“

Irene Klingler plant eine öffentlich­e Veranstalt­ung zum Thema in Wangen, wo sie über ihre Erlebnisse berichten will. Wo und wann, ist noch nicht abschließe­nd geklärt. Ihr Buch „Vom Schlafen auf kalten Fliesen bis zum Fußtritt ins Gesicht“ist im November 2018 im Eigenverla­g erschienen: ISBN 978-3-00-060016-6. Es kostet zehn Euro. Wer Interesse an dem Buch hat, kann sich direkt an Irene Klingler wenden. E-Mail: klinglerir­ene@gmail.com oder Telefon 07527 / 1452.

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FOTO: PATRICK PLEUL/DPA
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FOTO: JAN PETER STEPPAT Früher war dieses Gebäude in der Lindauer Straße in Wangen die Katholisch­e Knabenvolk­sschule, in der auch die evangelisc­he Konfession­sschule untergebra­cht war. Das Klassenzim­mer von Irene Klingler befand sich in der dritten Ebene (Eckklassen­zimmer).
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FOTO: RIC Irene Klinger aus Wolfegg hat ein Buch über Missbrauch an der Grundschul­e in Wangen und im Kinderheim Oberallewi­nden in Ravensburg geschriebe­n.

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