Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Gewalt an Kindern war Alltag
Irene Klingler berichtet von ihrer Zeit im Kinderheim und an der Volksschule in Wangen
Bad Wurzacher Lehrerin über ihre Zeit in Kinderheim und Volksschule.
WOLFEGG / WANGEN / BAD WURZACH - Irene Klingler will nicht mehr schweigen. „Auch hier vor unserer Haustür sind Kinder Opfer von Gewalt worden – und zwar jeden Tag“, sagt die Wolfeggerin. Bis zum heutigen Tage werden Misshandlungen, wie sie Irene Klingler erfahren und gesehen hat, verschwiegen oder klein geredet – vor allem, wenn es um kirchliche Institutionen geht, sagt sie. Im November 2018 hat Klingler ihr Buch „Vom Schlafen auf kalten Fliesen bis zum Fußtritt ins Gesicht“veröffentlicht. Dort thematisiert sie, was sie im evangelischen Kinderheim in Oberallewinden (Ravensburg) und in der evangelischen Volksschule in Wangen erlebt hat. In diesem Jahr will die 66-Jährige mit einer Veranstaltung in Wangen das Thema in die Öffentlichkeit bringen.
Schon bei einer Veranstaltung mit Wolfgang Huber, dem ehemaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Ende Januar in Bad Waldsee hat sie das Thema platziert, indem sie sich zu Wort meldete und Huber ein Exemplar ihres Buches überreichte. „Nichts hat unsere christliche Botschaft so sehr verdunkelt wie die Missbrauchsfälle“, erwiderte Huber.
Mädchen an Stuhl gefesselt
In Oberschwaben ist das Thema Missbrauch in jüngster Zeit aufgeschlagen, als der Missbrauchsskandal in den Heimen der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal mit Heimen in Korntal und Wilhelmsdorf öffentlich wurde. Ein Aufklärungsbericht, der im Juni 2018 in Stuttgart vorgestellt wurde, belegt, dass Kinder körperliche, seelische und sexuelle Gewalt erfahren haben. Doch wie die Geschichte und der Blick nach Deutschland zeigt, war die Brüdergemeinde keine Ausnahme.
Auch Irene Klingler verbrachte eine Zeit ihres Lebens im evangelischen Kinderheim in Oberallewinden bei Ravensburg. Wenn ihre Mutter sich nicht um die Kinder kümmern konnte, schickte sie die Tochter mit ihrem Bruder nach Oberallewinden. An ihren ersten Besuch in dem Heim erinnert sie sich noch genau. Bis heute schockiert sie das Gesehene. „Beim Rundgang durch das Gebäude sehe ich im Gruppenraum ein dunkelhäutiges Mädchen an einen Stuhl gefesselt. Die Handgelenke an die Lehnen festgebunden und einen Gurt um Bauch und Lehne. Ich sehe sie noch heute vor Augen. Und ich frage mich bis heute, warum meine Mutter und der Katechet nichts dazu gesagt haben“, erzählt Klingler.
Während ihrer Zeit im Heim hat sie dann erleben müssen, was die Kinder hier jeden Tag aushalten mussten. Vier bis fünf Jahre alt war sie damals. Die Szenen lassen sie bis heute nicht los. Kinder, die nicht aufgegessen haben, wurden geschüttelt und in den Nacken geschlagen und wenn sie sich übergeben hatten, mussten sie das Erbrochene
aufessen. „Schläge waren an der Tagesordnung“, erinnert sich Irene Klingler. Damit meint sie keine Backpfeifen. Die dortigen Diakonissinnen hätten die Buben an den Ohren und die Mädchen an den Haaren gezogen, bis die Füße über dem Boden waren.
Sie selbst habe kaum Gewalt erfahren. „Mir ging es verhältnismäßig gut, aber wir haben alle Angst gehabt. Ich wollte immer alles recht machen und nicht auffallen“, erzählt sie. Allerdings hätten die Schwestern ihre Nägel so tief geschnitten, bis die Finger bluteten. Den Kopf ihres Bruders hätten die Schwestern auf die Steinwanne geschlagen, weil er zu lang für die Wanne war. „Da kann doch kein Kind etwas dafür, wenn es zu lang ist“, ist Klingler bis heute entsetzt über das Verhalten. Ein Junge hätte nachts allein mit einer Decke auf dem Flur schlafen müssen – ohne Kopfkissen. „Ich hatte so Mitleid und hab ihm mein Feldbett angeboten, damit er wenigstens eine Nacht ein Bett hat. Aber auf den Deal ist er nicht eingegangen, weil er Angst hatte, wieder geschlagen zu werden. Er konnte sich an keine Familie erinnern und war allein. Sie haben sich immer die Schwächsten rausgesucht und ihre Opfer herangezogen“, erzählt sie. Die Diakonissinnen seien „kühl, streng, unnahbar ohne Herzenswärme“gewesen. „Ich konnte das gut unterscheiden. Denn im katholischen Kindergarten in Wangen war der Umgang ganz anders. Mit uns wurde gespielt. Wenn wir geweint haben, haben die Schwestern uns auf den Schoß genommen und die Tränen abgewischt.“
Gewaltexzesse musste Irene Klingler auch auf der evangelischen Volksschule in Wangen mit ansehen
und einmal auch selber erleben – vier Jahre lang. Sie berichtet von einem besonders strengen und sadistischen Lehrer, den sie in ihrem Buch Herr Maul nennt. Jeden Morgen habe er vor dem Unterricht Jungen verprügelt. „Das war unser Start in den Tag“, erinnert sie sich. Der Alltag sei geprägt gewesen von Angst, Schlägen und Disziplin. Brillenträger mussten vorher die Brille abnehmen. Es habe Hosenspanner auf den blanken Hintern gegeben. „Es verging kein Tag ohne Schlagen.“Laut den Beschreibungen von Irene Klingler wurde jeden Morgen kontrolliert, ob die Kinder ein Taschentuch dabei haben – und ob Fingernägel und Ohren sauber waren. „Wenn nicht, gab es Tatzen. Wer dabei gezuckt hat, bekam zwei“, sagt sie. Einmal hatte sie ihr Taschentuch vergessen, bekam Tatzen, ihre Finger schwollen an. Von da an hatte sie immer zwei Taschentücher dabei, falls ein Mitschüler eines vergaß.
Herr Maul habe eine ganz besondere „Schlagtechnik gehabt“: Eine Backe zwischen die Finger gequetscht, dann schlug er mit der anderen Hand auf die zweite Backe. Er schlug mit Zeigestock, Meterstock, mit der Hand und mit der Faust. Es habe nichts geholfen, wenn die Kinder vor Schmerzen geschrien und geweint haben. Dann habe er zusätzlich auf den Rücken geschlagen. Einmal habe er sie „regelrecht zusammengeschlagen“. „Er schrie mich an, gab mir Ohrfeigen und hat mich prügelnd durch den Raum getrieben“, berichtet Klingler. Als sie stolperte, stellte er sie wieder auf, prügelte weiter. Als sie auf dem Boden lag, trat er mit Füßen ins Gesicht. „Die Schmerzen waren unerträglich.“Kein Kind habe sich damals getraut, zu Hause etwas von dem prügelnden Lehrer zu erzählen. Wenn sie
blutig geschlagen waren, hätten sie erzählt, dass sie sich unter Klassenkameraden geprügelt hätten. Der Lehrer habe auch gedroht: „Wenn ihr was sagt, schlag ich euch tot.“Auf dem Heimweg hätten katholische Kinder den evangelischen aufgelauert, um sie zu prügeln. Manche hätten Angst gehabt, zu Hause vom Vater extra Prügel zu kassieren, wenn sie vom Lehrer berichteten.
Ärger über Verjährungsfristen
„Das Schlimmste ist, wenn man Kindern keinen Glauben schenkt“, sagt die ehemalige Realschullehrerin heute. Diese Erfahrungen waren schließlich auch ein Grund, dass sie Lehrerin geworden ist. Sie hat es anders machen wollen. Irene Klingler unterrichtete in Überlingen, Aulendorf, Bad Waldsee und bis zur Pensionierung 20 Jahre in Bad Wurzach.
Jetzt, sagt sie, muss darüber geredet werden. Gewalt an Kindern war auch in Oberschwaben Alltag. Am meisten ärgert sie, dass es für diese Taten eine Verjährungsfrist gibt. „Die Schäden verjähren nicht, sie bleiben ein Leben lang.“
Irene Klingler plant eine öffentliche Veranstaltung zum Thema in Wangen, wo sie über ihre Erlebnisse berichten will. Wo und wann, ist noch nicht abschließend geklärt. Ihr Buch „Vom Schlafen auf kalten Fliesen bis zum Fußtritt ins Gesicht“ist im November 2018 im Eigenverlag erschienen: ISBN 978-3-00-060016-6. Es kostet zehn Euro. Wer Interesse an dem Buch hat, kann sich direkt an Irene Klingler wenden. E-Mail: klinglerirene@gmail.com oder Telefon 07527 / 1452.