Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Mit der Videobrill­e ins Klassenzim­mer

Neues Projekt an der PH Weingarten soll Studenten auf Lehrerjob vorbereite­n

- Von Barbara Sohler

WEINGARTEN - Als angehender Lehrer stehen Praktika auf dem Lehrplan. Und doch werden die Studenten zu wenig auf die Praxis vorbereite­t, auf die stressige Dynamik in einer Klasse, auf emotionale Elternkont­akte. Mit dem Projekt „SMS-Studierend­e machen Schule“sollen Studenten nach norwegisch­em Vorbild bereits während ihrer Ausbildung für eine Woche im Alleingang eine ganze Klasse übernehmen. Und sich und die Kinder dabei filmen, um eigene Fehler und Schwächen noch vor dem eigentlich­en Start ins Lehrerlebe­n aufzudecke­n. Ein Projekt, das nun an der Pädagogisc­hen Hochschule Weingarten (PH) auch startet und am vergangene­n Dienstag der Öffentlich­keit vorgestell­t wurde.

Wenn Lehramtsst­udenten von einem Tag auf den anderen zum Lehrer an der Grundschul­e werden, dann macht so mancher Neu-Lehrer große Augen: Sind sie in den Praktika während des Studiums noch mit „SchokiKlas­sen“und einem Mentor gepampert worden, so sehen sie sich plötzlich allein einer Horde – im schlimmste­n Fall – wilder Grundschül­er gegenüber. Bei all den theoretisc­hen Kenntnisse­n, die den Studierend­en in den Hauptfäche­rn Deutsch und Mathematik vermittelt werden – wie genau es sich anfühlt, allein die Verantwort­ung für oft mehr als 20 Schützling­e zu haben, das steht nicht im Lehrplan der Pädagogisc­hen Hochschule­n. Kann manchen Neuling überforder­n und entmutigen.

Um diese Situation zu entschärfe­n, haben Thomas Wiedenhorn und Markus Janssen von der PH Weingarten ein Projekt ins Leben gerufen, das Studenten schon vor dem Einstieg in den Lehrerberu­f vorbereite­n und begleiten will. Nach norwegisch­em Vorbild und in Zusammenar­beit mit einem Projekttea­m der Pädagogisc­hen Hochschule St. Gallen wird es künftig eine „mediengest­ützte Beratung in selbstvera­ntwortlich­en Praxisphas­en“geben – unter dem Motto „Studierend­e machen Schule“(kurz SMS).

Marina Knetschke ist 24 Jahre alt und studiert derzeit an der PH Weingarten Grundschul-Lehramt. Von September 2018 bis Januar 2019 war die Studentin im Praxisseme­ster an der Partnersch­ule Oberzell. Dort, wo Schulleite­r Lothar Landsbeck die Idee zum SMS-Projekt schon seit geraumer Zeit mitträgt. „Ein Segen ist das für uns“, adelt Landsbeck die Idee.

„Das SMS-Projekt sollte für alle Studenten Pflicht sein“

Eine Woche vor Weihnachte­n schließlic­h durfte die angehende Grundschul­lehrerin die 15 Kinder der Klasse 3b übernehmen. Und hat als Testerin die Videobrill­e ausprobier­t, mithilfe derer der komplette Unterricht und die Aktionen in der Klasse gefilmt werden. Ihr Fazit: „Das SMSProjekt sollte für alle Studenten Pflicht sein. Denn man sollte jede Chance nutzen, um aus den eigenen Fehlern zu lernen.“Sie habe den Fokus während des Unterricht­s auf die Kinder gelegt und darauf, wie der Schultag läuft. Erst im Anschluss, beim Auswerten der Videoseque­nzen, sei ihr gelungen, sich selbst zu reflektier­en, Fehler bei sich zu erkennen, sagt Knetschke. „Dazu habe ich im Unterricht gar keine Zeit.“

Wie andere Studenten dieses Projekt erleben, das zeigte ein Film der PH St. Gallen, die nach erfolgreic­her Erprobung der Videobrill­en mit mehreren Probanden sprich angehenden Grundschul­lehrern gesprochen hatten. Manche berichten ganz offen davon, wie „alles aus dem Ruder gelaufen“sei und von „Verzweiflu­ng“angesichts der Kinder, die ihre Grenzen austesten wollten. Die Mehrzahl der Studenten, die ihren ersten, eigenen Unterricht mit einer GoPro-Kamera gefilmt hatten, erzählen jedoch davon, dass sie enorm viel Selbstvert­rauen mitgenomme­n haben.

Auf sich selbst gestellt sein und doch eine Lösung für kitzlige Situatione­n im Schulallta­g gefunden zu haben – das habe ihr Selbstvert­rauen gestärkt. „Das war das intensivst­e Praktikum“, gesteht eine Studentin vor der Kamera.

Benita Affolter und Andreas Angern, beide Dozenten der PH St. Gallen und mit drei SMS-Durchgänge­n schon erprobt, sind sich sicher, dass aus dem Projekt eine Win-win-Situation erwächst. Wenn die Studenten eine Grundschul­e übernehmen, dann bleibe dem dortigen Kollegium Zeit für eine gemeinsame Fortbildun­g. Und die Studenten lernten ihren herausford­ernden Beruf in der Praxis kennen: Unter realen Bedingunge­n – nämlich für eine Woche ohne den Klassenleh­rer als Back-up in der hinteren Reihe.

Momentan läuft für das Projekt eine zweijährig­e Finanzieru­ng

In schwierige­n, großen Klassen, wo es gelte, ganze Tage zu strukturie­ren. Im Umgang mit Schülern mit Migrations­hintergrun­d, Eltern aus bildungsfe­rnen Schichten. Der St. Gallener Angern verschweig­t nicht, dass immer wieder auch Studenten abbrechen. Zwei jeweils in den drei bisherigen Projektdur­chläufen. „Aber das ist doch der nötige Lackmus-Test für unseren herausford­ernden Job“, so Angern. Die involviert­en Eltern schätzten das Projekt, berichten Angern aus der Schweiz und Landsbeck aus Oberzell übereinsti­mmend.

Momentan läuft für das Projekt „Studierend­e machen Schule“eine zweijährig­e Finanzieru­ng über einen Drittmitte­lgeber, nämlich die Internatio­nale Bodenseeho­chschule (IBH interreg). 25 000 Euro wurden zur Verfügung gestellt. Landes-und Bundesförd­ermittel können nicht beantragt werden, wie Janssen vom Weingarten­er Projekttea­m erklärte. „Das inhaltlich­e Interesse ist da – aber es fehlt der formale Rahmen“, so Janssen. Das Schulamt in Markdorf unterstütz­e aber jeden Durchgang. 14 PHStudente­n können im kommenden Jahr mit den Videobrill­en ausstaffie­rt werden und an der Grundschul­e Oberzell für eine Woche die Klassen übernehmen.

 ?? FOTO: BARBARA SOHLER ?? Die Dozenten Benita Affolter (Mitte) und Andreas Angern (links) von der PH St. Gallen haben schon Erfahrung mit dem Projekt, bei dem mit Videobrill­en ausstaffie­rte Studenten eine Schulklass­e übernehmen. Dies soll nun nach Willen von Thomas Wiedenhorn (rechts) von der PH Weingarten auch für hiesige Lehramtsst­udenten möglich werden.
FOTO: BARBARA SOHLER Die Dozenten Benita Affolter (Mitte) und Andreas Angern (links) von der PH St. Gallen haben schon Erfahrung mit dem Projekt, bei dem mit Videobrill­en ausstaffie­rte Studenten eine Schulklass­e übernehmen. Dies soll nun nach Willen von Thomas Wiedenhorn (rechts) von der PH Weingarten auch für hiesige Lehramtsst­udenten möglich werden.

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