Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
„Lage des Einzelnen kann man verbessern“
Ravensburger Diakon Gerd Gunßer reagiert auf Kritik am Konzept der Vesperkirche
RAVENSBURG - Für das Konzept der Vesperkirchen gibt es nicht nur Lob, sondern auch Kritik. Unter anderem geht es darum, dass bedürftige Menschen nicht nur ein paar Wochen im Jahr Hilfe brauchen, sondern immer. Einer der Organisatoren der Aktion in Ravensburg, Diakon Gerd Gunßer, verteidigt im Gespräch mit Lena Müssigmann das Konzept des Mittagessens zum symbolischen Preis von 1,50 Euro, das zurzeit in Dutzenden Kirchen in Baden-Württemberg umgesetzt wird – und seit zwei Wochen in Ravensburg.
Herr Gunßer, wie sinnvoll ist es, Menschen drei Wochen lang „abzuspeisen“, wenn danach wieder nichts in der Art geboten ist?
Dass es nach der Vesperkirche nichts gibt, stimmt so auch nicht. Es gibt das ganze Jahr über mehrere Angebote: die Tafel und einmal wöchentlich „Einfach Essen“bei der katholischen Gemeinde. Außerdem geben die Beratungsstellen von Caritas und Diakonie Gutscheine fürs Einkaufen aus. Zwischen dem 20. und 30. eines Monats haben viele Leute im Arbeitslosengeld-II-Bezug kein Geld mehr. Aber klar, ich hätte gerne eine zweite Veranstaltung in der Art oder eine längere Vesperkirche.
Um Armut langfristig zu bekämpfen, nützt die Vesperkirche aber nichts.
Es ist zu einfach, zu sagen: Ihr bewegt nichts. Wir können Armut nicht beseitigen, das müssen Politiker schaffen. Vor zwei Jahren hatten wir das Thema Wohnraummangel. Wir können zwar keine Wohnungen bauen, aber aus der Vesperkirche ist damals das Bündnis für bezahlbaren Wohnraum entstanden. Wir machen auf Themen aufmerksam. Dieses Jahr geht es um Bildungsgerechtigkeit. Wen interessiert es schon, wie viel eine Hartz-IV-Familie für Schulmaterial ausgeben kann? Oder dass manchen Leuten der Strom abgeschaltet wird, weil sie ihn nicht bezahlen können? Das sieht die Öffentlichkeit nicht. Man muss den Finger in die Wunde legen und die Gesellschaft darauf aufmerksam machen.
Einzelne Armutsforscher sagen, eine Folge von Vesperkirchen und Tafeln sei, dass sich der Staat aus der Fürsorge für arme Menschen zurückzieht. Sehen Sie das auch so?
Die Frage beschäftigt mich schon seit mehr als 20 Jahren. Stütze ich das System, indem ich Almosen verteile, oder helfe ich Betroffenen dadurch in ihrer Situation? Ich meine: Das System kann ich nicht abrupt ändern. Aber die Lage des Einzelnen und der Einzelnen, der oder die in dem System stecken, kann ich verbessern. Den Menschen muss geholfen werden, weil sie in den meisten Fällen unverschuldet in Not geraten sind. Wenn es Angebote wie die Vesperkirche nicht gäbe, gäbe es die Armen trotzdem und es ginge noch schlimmer zu in unserer Gesellschaft. Und stellen Sie sich mal vor, die finanzielle Not wäre sichtbarer in Deutschland – das wäre auch nicht recht.
Mit einem Projekt wie der Vesperkirche im Hintergrund kann man mit mehr Nachdruck auf die Problematik hinweisen. Und wie gesagt, sehe ich die Politik in der Pflicht, das System zu ändern.
Ein Sozialarbeiter, der in Stuttgart mit wohnungslosen Menschen arbeitet, kritisierte die dortige Vesperkirche dafür, dass sie Spenden und ehrenamtliche Kapazität „absauge“. Hier arbeiten knapp 500 Ehrenamtliche mit und es werden mehr als 100 000 Euro Spenden gesammelt. Hören Sie auch, dass das Geld anderswo fehlt?
Charmant an der Vesperkirche ist zumindest für ehrenamtliche Helfer, dass sie drei Wochen dauert und dann vorbei ist. Die Stuttgarter Vesperkirche geht sieben Wochen, die brauchen da immens mehr Geld. Hier im Oberschwäbischen fehlt das Geld meiner Einschätzung nicht an anderer Stelle. Diese Kritik könnte man übrigens dann an jede Spendenaktion richten.
Was sagen eigentlich Restaurantbetreiber aus der Stadt zu dem günstigen Essensangebot?
Es gibt manchmal Kritik von dem ein oder anderen Gastronom. Aber da die Vesperkirche zeitlich so begrenzt ist, macht das denen doch nicht viel aus. In Stuttgart gab es auch schon Gespräche zwischen der evangelischen Landeskirche und dem DEHOGA (Deutscher Hotelund Gaststättenverband, Anmerkung
der Redaktion). Die haben kein Problem mit den Vesperkirchen.