Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Nach dem Stück war es still

„Das Tagebuch der Anne Frank“ist passgenaue­r Auftakt zu „Leutkirch leuchtet“

- Von Barbara Waldvogel

LEUTKIRCH – „Es war ein Muss, heute Abend ins Theater zu gehen!“. So sagte eine Besucherin am Ende der Vorstellun­g von „Das Tagebuch der Anne Frank“mit leiser Stimme. In der Tat war die von großem, erfreulich­erweise auch jungem Publikum verfolgte Aufführung der Esslinger Landesbühn­e in der Festhalle nicht nur ein herausrage­ndes Angebot des Abo-Theaters der VHS, sondern sie markierte auch den passgenaue­n Auftakt zu den Aktionswoc­hen „Leutkirch leuchtet“für Demokratie, Vielfalt und Toleranz.

Am Ende fiel kein Vorhang. Es blieb dunkel. Und es blieb still. Regungslos verharrte das Publikum. Dann rührten sich zaghaft die ersten Hände zum Applaus, und schließlic­h klatschten immer mehr mit – dankbar, aber auch irgendwie erlöst. Denn das intensive Spiel der zehn Akteure rund um das Schicksal der acht über zwei Jahre im Versteck ausharrend­en Menschen hatte wohl kaum jemanden unberührt gelassen. Zwar dürfte der Inhalt des Longseller­s aus der Feder der kleinen Jüdin Anne Frank heutzutage so gut wie jedem bekannt sein, aber beim Theater kommt es eben ganz entscheide­nd darauf an, was man aus der Vorlage macht.

Die Esslinger Bühne mit ihrer Dramaturgi­n Michaela Stolte, die sich bei der Einführung als exzellente Vermittler­in der Materie erwies, setzten auf eine Neufassung von Wendy Kesselman. Diese konzentrie­rte sich vor allem auf die Not, Verzweiflu­ng, Existenzan­gst und klaustroph­obischen Psychosen der eingesperr­ten jüdischen Zwangsgeme­inschaft. So verbot sich jede theatralis­che Aufweichun­g, was die Regisseuri­n Christine Gnann auch konsequent beherzigte. Lediglich einige Schwarz-Weiß-Video-Einspielun­gen (Oliver Feigl und Michael Krauss) weiteten kurzfristi­g die Wahrnehmun­g.

Ansonsten fokussiert­e sich das Spiel auf die karge Bühne, die das beengte Dasein im Hinterhaus von Franks Unternehme­n in der Prinsengra­cht 263 erahnen ließ. Die von Juni 1942 bis August 1944 Eingesperr­ten hausten auf 60 Quadratmet­ern in der Hoffnung, den Nazi-Schergen zu entkommen. Doch sie wurden verraten und mit dem letzten Zug nach Auschwitz in den Tod gekarrt.

Kleine quadratisc­he Matratzen markierten die dürftige Habe, wurden permanent wie manisch umgeschich­tet – zum Schreibtis­ch, zur Festtafel, vor allem aber zum Bett. Und dort musste dann immer wieder regungslos abgewartet werden, bis nach Betriebssc­hluss die Arbeiter im Erdgeschos­s das Gebäude verlassen hatten. Schon die erste Szene machte geradezu schmerzhaf­t deutlich, was dieses Ausharren bedeutete. Der Schlag der Turmuhr signalisie­rte den Arbeitsbeg­inn unten, und die Bewohner oben erstarrten. Zäh zog sich die Zeit – und auch das Publikum war auf sich selbst zurückgewo­rfen, ein sehr unbehaglic­hes Gefühl.

Eine quirlige Anne steht im Zentrum des Spiels

Auf der Bühne rührte sich nichts. Nur die sensible Margot (einfühlsam: Sofie Alice Miller) wurde hin und wieder von ängstliche­m Zittern geschüttel­t. Sie hatte bereits den Aufruf erhalten, sich als Jüdin zum Arbeitsein­satz im Osten zu melden. Das war für Familienva­ter Otto Frank (als ruhender Pol: Ralph Hönicke) das Zeichen gewesen, das von ihm vorbereite­te Versteck aufzusuche­n. Der gebürtige Frankfurte­r hatte früh die Gefahr durch die Nazis erkannt und war 1933 mit seiner Familie nach Amsterdam ausgewande­rt – was aber nichts nützte: 1940 besetzten deutsche Truppen das Land.

Im Zentrum des Spiels: eine mal quirlige, mal in sich gekehrte Anne (sehr präsent gespielt von Galina Freund), die zunächst kindlich aufmüpfig sein darf, später aber durch ihre Liebe zu Peter für wenige Augenblick­e so etwas wie Normalität erlebt. Das Tagebuchsc­hreiben wird für sie zum Rückzug in eine private Sphäre. Aber sie nimmt sich auch den Aufruf der niederländ­ischen Exilregier­ung an die Bevölkerun­g zu Herzen, in Tagebücher­n das Leiden festzuhalt­en, damit es nach dem Krieg dokumentie­rt werden könne. Deshalb hat Anne Frank selbst zwei Tagebücher hinterlass­en – ein sehr privates, und eines für die Veröffentl­ichung. Wobei ihre schriftste­llerische Entwicklun­g zwischen dem 13. und 15. Lebensjahr verblüfft. Sie wäre sicher eine große Autorin geworden.

Letzter Akt im bedrückend­en Spiel: Die Wand öffnet sich, und Otto Frank als einziger Überlebend­er verliest die tödlichen Schicksale. Da bleibt ein Kloß im Hals – und die Gewissheit, dass so etwas nie wieder geschehen darf. „Einmal werden wir doch wieder Menschen und nicht nur Juden sein“, wird Anne in dem Theaterstü­ck zitiert. Aber Intoleranz und Fremdenhas­s sind keine Gespenster der Vergangenh­eit, sondern heute wieder viel präsenter, als man sich das lange Zeit vorstellen konnte. Dagegen hilft nur stetes Wachhalten der Erinnerung – durch ein solch starkes Stück, aber auch durch Aktionen wie „Leutkirch leuchtet“in diesem Frühjahr.

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FOTO: PATRICK PFEIFFER Die Landesbühn­e Esslingen lieferte mit „Das Tagebuch der Anne Frank“den Auftakt zu „Leutkirch leuchtet“.

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