Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Nach dem Stück war es still
„Das Tagebuch der Anne Frank“ist passgenauer Auftakt zu „Leutkirch leuchtet“
LEUTKIRCH – „Es war ein Muss, heute Abend ins Theater zu gehen!“. So sagte eine Besucherin am Ende der Vorstellung von „Das Tagebuch der Anne Frank“mit leiser Stimme. In der Tat war die von großem, erfreulicherweise auch jungem Publikum verfolgte Aufführung der Esslinger Landesbühne in der Festhalle nicht nur ein herausragendes Angebot des Abo-Theaters der VHS, sondern sie markierte auch den passgenauen Auftakt zu den Aktionswochen „Leutkirch leuchtet“für Demokratie, Vielfalt und Toleranz.
Am Ende fiel kein Vorhang. Es blieb dunkel. Und es blieb still. Regungslos verharrte das Publikum. Dann rührten sich zaghaft die ersten Hände zum Applaus, und schließlich klatschten immer mehr mit – dankbar, aber auch irgendwie erlöst. Denn das intensive Spiel der zehn Akteure rund um das Schicksal der acht über zwei Jahre im Versteck ausharrenden Menschen hatte wohl kaum jemanden unberührt gelassen. Zwar dürfte der Inhalt des Longsellers aus der Feder der kleinen Jüdin Anne Frank heutzutage so gut wie jedem bekannt sein, aber beim Theater kommt es eben ganz entscheidend darauf an, was man aus der Vorlage macht.
Die Esslinger Bühne mit ihrer Dramaturgin Michaela Stolte, die sich bei der Einführung als exzellente Vermittlerin der Materie erwies, setzten auf eine Neufassung von Wendy Kesselman. Diese konzentrierte sich vor allem auf die Not, Verzweiflung, Existenzangst und klaustrophobischen Psychosen der eingesperrten jüdischen Zwangsgemeinschaft. So verbot sich jede theatralische Aufweichung, was die Regisseurin Christine Gnann auch konsequent beherzigte. Lediglich einige Schwarz-Weiß-Video-Einspielungen (Oliver Feigl und Michael Krauss) weiteten kurzfristig die Wahrnehmung.
Ansonsten fokussierte sich das Spiel auf die karge Bühne, die das beengte Dasein im Hinterhaus von Franks Unternehmen in der Prinsengracht 263 erahnen ließ. Die von Juni 1942 bis August 1944 Eingesperrten hausten auf 60 Quadratmetern in der Hoffnung, den Nazi-Schergen zu entkommen. Doch sie wurden verraten und mit dem letzten Zug nach Auschwitz in den Tod gekarrt.
Kleine quadratische Matratzen markierten die dürftige Habe, wurden permanent wie manisch umgeschichtet – zum Schreibtisch, zur Festtafel, vor allem aber zum Bett. Und dort musste dann immer wieder regungslos abgewartet werden, bis nach Betriebsschluss die Arbeiter im Erdgeschoss das Gebäude verlassen hatten. Schon die erste Szene machte geradezu schmerzhaft deutlich, was dieses Ausharren bedeutete. Der Schlag der Turmuhr signalisierte den Arbeitsbeginn unten, und die Bewohner oben erstarrten. Zäh zog sich die Zeit – und auch das Publikum war auf sich selbst zurückgeworfen, ein sehr unbehagliches Gefühl.
Eine quirlige Anne steht im Zentrum des Spiels
Auf der Bühne rührte sich nichts. Nur die sensible Margot (einfühlsam: Sofie Alice Miller) wurde hin und wieder von ängstlichem Zittern geschüttelt. Sie hatte bereits den Aufruf erhalten, sich als Jüdin zum Arbeitseinsatz im Osten zu melden. Das war für Familienvater Otto Frank (als ruhender Pol: Ralph Hönicke) das Zeichen gewesen, das von ihm vorbereitete Versteck aufzusuchen. Der gebürtige Frankfurter hatte früh die Gefahr durch die Nazis erkannt und war 1933 mit seiner Familie nach Amsterdam ausgewandert – was aber nichts nützte: 1940 besetzten deutsche Truppen das Land.
Im Zentrum des Spiels: eine mal quirlige, mal in sich gekehrte Anne (sehr präsent gespielt von Galina Freund), die zunächst kindlich aufmüpfig sein darf, später aber durch ihre Liebe zu Peter für wenige Augenblicke so etwas wie Normalität erlebt. Das Tagebuchschreiben wird für sie zum Rückzug in eine private Sphäre. Aber sie nimmt sich auch den Aufruf der niederländischen Exilregierung an die Bevölkerung zu Herzen, in Tagebüchern das Leiden festzuhalten, damit es nach dem Krieg dokumentiert werden könne. Deshalb hat Anne Frank selbst zwei Tagebücher hinterlassen – ein sehr privates, und eines für die Veröffentlichung. Wobei ihre schriftstellerische Entwicklung zwischen dem 13. und 15. Lebensjahr verblüfft. Sie wäre sicher eine große Autorin geworden.
Letzter Akt im bedrückenden Spiel: Die Wand öffnet sich, und Otto Frank als einziger Überlebender verliest die tödlichen Schicksale. Da bleibt ein Kloß im Hals – und die Gewissheit, dass so etwas nie wieder geschehen darf. „Einmal werden wir doch wieder Menschen und nicht nur Juden sein“, wird Anne in dem Theaterstück zitiert. Aber Intoleranz und Fremdenhass sind keine Gespenster der Vergangenheit, sondern heute wieder viel präsenter, als man sich das lange Zeit vorstellen konnte. Dagegen hilft nur stetes Wachhalten der Erinnerung – durch ein solch starkes Stück, aber auch durch Aktionen wie „Leutkirch leuchtet“in diesem Frühjahr.