Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Drei Millionen Venezolane­r haben der Heimat schon den Rücken gekehrt

Armut, Hunger und Perspektiv­losigkeit treiben die Menschen weg – Menge der Flüchtling­e stellt Nachbarlän­der vor große Probleme

- Von Klaus Ehringfeld

CARACAS/BOGOTÁ - Ihren ältesten Sohn hat Socorro Mora irgendwann schweren Herzens ziehen lassen. Cristian Mora war 20 und ohne Perspektiv­e in dem Venezuela von Nicolás Maduro, wo die Hyperinfla­tion die Löhne wegfrisst. Es zog den gelernten Motorradme­chaniker nach Kolumbien, in das Land, aus dem seine Mutter vor Jahrzehnte­n selber nach Venezuela kam. Damals war der Ölstaat ein prosperier­endes Land, er bot Arbeit und Auskommen und zog Menschen aus der ganzen Welt an, die auf der Suche nach einem besseren Leben waren.

„Nie hätte ich gedacht, dass wir mal selber darüber nachdenken, hier wieder wegzugehen“, sagt Socorro Mora. Doch schon seit Jahren reicht nicht mehr, was sie als Hausmeiste­rin und ihr Mann Mauricio als Taxifahrer verdienen. Dazu drei Söhne mit hungrigen Mägen. Cristian Mora lebt seit zwei Jahren in Bogotá und schickt seinen Eltern jeden Monat ein paar Dollars.

Vor zwei Jahren hat Otoniel Vargas seine Mutter ins Ausland geschickt. Heute lebt Mariana Vargas bei ihrem Bruder in Peru. Die 76-Jährige leidet an Diabetes, und die Medikament­e dafür gibt es entweder gar nicht mehr in Venezuela oder nur zum dreifachen Preis auf dem Schwarzmar­kt. Da sei die Frage irgendwann gewesen, gehen oder sterben, sagt Otoniel, der in einem Supermarkt in Caracas arbeitet.

Zwei Geschichte­n, die für Millionen andere Schicksale stehen. Wer in diesen aufgewühlt­en Tagen mit den Menschen in Venezuela redet, hört immer die gleichen Erzählunge­n von Migration, Exil und der Suche nach Perspektiv­en. Mittlerwei­le hat fast jeder Venezolane­r einen Verwandten oder Bekannten „draußen“. Drei Millionen haben in den vergangene­n Jahren angesichts von Hunger, Hoffnungsl­osigkeit oder politische­r Verfolgung ihr Land verlassen. Das sind zehn Prozent der Bevölkerun­g.

Die Flüchtling­skrise ist die stille Seite dieses Dramas. Erst gingen die Reichen, dann folgte die Mittelschi­cht, und inzwischen laufen dem Land des „Sozialismu­s des 21. Jahrhunder­ts“sogar die einstmals treusten Anhänger davon – die Armen. Lehrerinne­n in den Slums von Caracas berichten davon, dass pro Schuljahr bis zu einem Drittel der Kinder nach den Ferien nicht mehr wiederkomm­en. „Erst ging der Vater, dann die Mutter und letztlich gingen auch die Großeltern – und die haben dann auch die Kinder mitgenomme­n.“

Längst hat sich die Flüchtling­skrise zu einem regionalen Problem entwickelt. Allein in Bogotá kommen täglich rund 80 venezolani­sche Flüchtling­e an. Sie erhalten eine Aufenthalt­sgenehmigu­ng für zwei Jahre und können eine Arbeitserl­aubnis beantragen. „Wir haben die Venezolane­r bei uns mit Zuneigung und Brüderlich­keit aufgenomme­n“, sagte Staatschef Iván Duque diese Woche bei einem Treffen mit dem deutschen Bundespräs­identen FrankWalte­r Steinmeier. Dieser würdigte die humanitäre­n Anstrengun­gen Kolumbiens. Gerade weil Deutschlan­d die Erfahrung einer Flüchtling­skrise kenne, „nötigt uns Ihre Leistung Respekt ab,“sagte er zu Duque. Dieser findet aber, sein Land sei am Rande der Belastbark­eit angekommen.

Nur ein Grenzüberg­ang

Was Duque meint, sieht man in Cúcuta, der Grenzstadt im Osten des Landes. Die Stadt, in der gewöhnlich 650 000 Menschen leben, beherbergt inzwischen 168 000 Venezolane­r, wie die kolumbiani­schen Einwanderu­ngsbehörde­n ermittelt haben. Und jeden Tag kommen neue über die Fußgängerb­rücke Simón Bolívar hinzu, dem einzigen geöffneten Grenzüberg­ang zwischen den Staaten, seit Venezuelas Machthaber Maduro den Grenzposte­n für Fahrzeuge sperren ließ.

Von den 35 000 Venezolane­rn, die täglich nach Cúcuta kommen, kehren die meisten abends wieder zurück. Sie suchen in der Grenzstadt nach Tagelöhner­jobs, aber vor allem Lebensmitt­el und medizinisc­he Versorgung. Inzwischen werden in Cúcuta mehr Kinder von venezolani­schen Müttern geboren als von kolumbiani­schen.

Wer nicht mehr nach Hause zurück will, kann in der Grenzstadt eine Fahrkarte in eine bessere Zukunft kaufen. Bis zum kolumbiani­schecuador­ianischen Grenzüberg­ang Rumichaca kommt man für 110 Dollar. Eine Reise in die peruanisch­e Hauptstadt Lima kostet 235 Dollar, ein Billet für eine Fahrt bis ins argentinis­che Buenos Aires fast 500 Dollar.

Aber je länger das Elend in Venezuela dauert, desto größer wird der Unmut in den Aufnahmelä­ndern. Im August kam es in der brasiliani­schen Grenzstadt Pacaraima im Bundesstaa­t Roraima zu regelrecht­en Jagdszenen. Dutzende Brasiliane­r machten mit Waffen und Steinen Jagd auf venezolani­sche Migranten und zündeten ihre Notunterkü­nfte an. Auslöser war der Überfall auf einen brasiliani­schen Händler.

Auch Socorro Mora verliert allmählich die Geduld. „Ich hatte all meine Hoffnung in Juan Guaidó gesetzt“, sagt sie. „Aber jetzt dauert der Machtkampf schon bald einen Monat, und es ist keine Besserung in Sicht.“Wenn das Elend mit den Chavisten nicht bald ein Ende habe, dann will die 42-Jährige auch nach Kolumbien gehen und dort Arbeit suchen. „Dann muss mein Mann hier auf die anderen beiden Söhne aufpassen“.

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FOTO: AFP Neben der einzigen offenen Brücke zu Kolumbien überqueren die Menschen auch auf illegalen Wegen die Grenze.

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