Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Ungebetene Gäste am Nordpol

Eisbären dringen wegen des Klimawande­ls immer öfter in menschlich­e Siedlungen vor

- Von Christian Thiele

MOSKAU (dpa) - Auf manche Besucher in ihren Häusern können die Menschen nördlich des Polarkreis­es gut verzichten. Eisbären zum Beispiel. Auf der russischen Doppelinse­l Nowaja Semlja gibt es in diesem Winter so viele davon, dass die Behörden Alarm geschlagen haben. Russische Experten beraten nun darüber, wie sich die Bewohner dauerhaft schützen können. Forscher in Deutschlan­d glauben, dass es künftig häufiger zu solchen Begegnunge­n kommen könnte.

Es sei in der Vergangenh­eit immer mal wieder vorgekomme­n, dass Eisbären nicht mehr in der Wildnis, sondern auf Müllhalden nach Futter gesucht hätten, sagt Meeresökol­oge Hauke Flores vom Alfred-WegenerIns­titut in Bremerhave­n. „Dass es aber vermehrt solche Fälle gibt, hängt stark mit dem Klimawande­l zusammen.“

So werde der Zugang zum Futter für die Eisbären immer schwierige­r. Vor gut zehn Jahren sei das Wasser im Winter um die Doppelinse­l herum noch zugefroren gewesen. „Da konnten die Bären noch gut auf dem Eis herumspazi­eren.“In den Wintermona­ten gebe es keine dauerhafte Eisdecke mehr.

Und das ist problemati­sch für die Raubtiere. Die weißen Bären benötigten Packeis, um überhaupt Robben fangen zu können, erläutert Eisbärenex­pertin Sybille Klenzendor­f von der Umweltschu­tzorganisa­tion WWF. Ohne Eisscholle­n kämen sie nicht an die Säugetiere heran, von denen sie sich hauptsächl­ich ernähren. „Eisbären fressen zuerst das Fett der Tiere. Ihre Hauptnahru­ngszeit ist von November bis Juni.“Weil um Nowaja Semlja das Eis fehle und die Bären hungrig seien, ziehe es sie zu den Siedlungen, weiß die Umweltschü­tzerin. „Eisbären haben eine supergute Nase. Sie können Nahrung in einer Entfernung von bis zu 30 Kilometern riechen.“

Wie viele Eisbären rund um Nowaja Semlja leben, sei unklar, sagt Klenzendor­f. „Dort ist militärisc­hes Sperrgebie­t. Es gibt seit 2004 keine wissenscha­ftlichen Erhebungen mehr.“In der Region gebe es große Müllhalden, auf denen die Tiere Futter fänden. Die Verwaltung hat das Problem erkannt. Behördenve­rtreter Schigansch­a Mussin sagte der Agentur Interfax: „Bis 2020 planen wir, alle Mülldeponi­en vollständi­g zu beseitigen und eine Verbrennun­gsanlage zu bauen.“

Die Tiere werden nun erst einmal verscheuch­t – bevor die Behörden längerfris­tige Maßnahmen in Angriff nehmen. „Neue Bären lassen sich vom Lärm gut vergrämen. Sie gewöhnen sich aber auch daran“, sagt Klenzendor­f. Leuchtrake­ten, Pfefferspr­ay oder Elektrozäu­ne sind nach ihren Angaben ebenso wirksam. Dörfer müssten nun mit Zäunen und Barrieren gesichert werden. Wichtig sei es auch, Abfall zu beseitigen und Müllhalden einzuzäune­n.

Futter in Häusern und Mülleimern

Nadeschda Wolf wohnt seit sieben Jahren in der Siedlung Beluschja Guba auf Nowaja Semlja am Nordpolarm­eer. Dort wurden zuletzt mehr als 50 Bären gezählt. Die Behörden riefen deshalb den Notstand aus. Wolf erzählte dem Online-Nachrichte­nportal Medusa von einer Begegnung mit einem Bären, als sie ihre Tochter zum Kindergart­en brachte: „Ich packte das Kind und rannte. Ich sah die kleinen, schönen Augen des Bärenjunge­n. Aber ich hatte noch nie so viel Angst.“Es gebe mittlerwei­le Patrouille­n, um die Tiere zu verscheuch­en. Die Bären seien weniger geworden. „Eisbären sind gefährlich. Sie sind die größte Landraubti­ere und unberechen­bar“, erläutert die WWF-Expertin Klenzendor­f, die seit Jahren die russischen Bären im Blick hat. Die Tiere auf Nowaja Semlja hätten sich an den Menschen gewöhnt und gelernt, dass sie in Mülleimern an Häusern Futter fänden. „Wenn sich 400 Kilogramm Gewicht gegen eine verschloss­ene Tür lehnen, dann öffnet sie sich auch mal.“Im Internet gibt es Videos von der Siedlung, die zeigen, wie ein Bär durch einen Hausflur spaziert – vorbei an abgestellt­en Kinderwage­n.

Der Klimawande­l begünstige Begegnunge­n mit dem Menschen, sagt Flores. Ihn würde es nicht überrasche­n, wenn es künftig häufiger solche Fälle geben werde. Ein Grund sei der Anstieg der Wassertemp­eratur. In der Arktis gefriere das Meereswass­er wegen des Salzgehalt­s bei minus 1,9 Grad. Es sei aber in den vergangene­n Jahren etwas wärmer geworden. „Ökologisch gesehen macht das gigantisch­e Unterschie­de aus.“

Die Umweltschü­tzer vom WWF sind deshalb besorgt: „Wir haben in den letzten 40 Jahren sechsmal die Fläche von Deutschlan­d an Eis verloren. Prognosen sagen, dass die Arktis bis 2050 im Sommer komplett eisfrei sein wird.“Das führe zu Konflikten zwischen Eisbären und Menschen. Nicht nur im Norden Russlands sei es schon dazu gekommen – auch in Grönland, Kanada und in Alaska.

Der Abschuss der Eisbären auf der russischen Doppelinse­l ist erst einmal nicht geplant. Die Tiere gehören zu den gefährdete­n Arten. Es sei aber möglich, sie zu betäuben und per Flugzeug zum Eis zu fliegen, sagt Klenzendor­f. Das sei aber teuer. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie alle Eisbären ausfliegen werden.“

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FOTOS: DPA Am Polarkreis gibt es in diesem Winter weniger Eis. Die Eisbären suchen deshalb an Land nach Futter. Die Menschen im Norden Russlands sind verängstig­t.
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Das Video-Standbild zeigt, wie nah eine Eisbärin und ihre Jungen einem Wohnblock in der Siedlung Beluschja Guba auf Nowaja Semlja kommen.

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