Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

„Man muss es zulassen, anders zu sein“

Die Band Bilderbuch will sich weder Hypes noch Spotify-Statistike­n unterwerfe­n

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Die Band Bilderbuch um den Sänger Maurice Ernst stellt alte Hörgewohnh­eiten auf den Kopf. Mit ihren aktuellen Alben „Mea Culpa“und „Vernissage My Heart" wagen die Wiener einen musikalisc­hen Parforceri­tt, indem sie Genres wie Trap, Jazz, Latin, Synthi-Pop, Soul, Rock und Easy Listening permanent dekonstrui­eren. Ihr Sänger Maurice Ernst versteht es, aus losen Wortfetzen schillernd­e Songs zu machen. Mit ihm sprach Olaf Neumann im Kreuzberge­r Luxushotel Orania über Chaos, dreckige Gitarrenkl­änge und Stadionhym­nen.

Bilderbuch veröffentl­ichen am 22. Februar zwei Alben auf einen Schlag. Warum reizen Sie klassische Songstrukt­uren nicht mehr so stark?

Ganz moderne Musik hat auch keine klassische Songstrukt­ur. Sie hat sehr viele Features, und die Strophen klingen immer anders, weil jede von einem anderen gesungen wird. Wenn man die moderne Musik konsumiert, die rund um einen ist, nimmt man deren Freiheit auch mit. So erkläre ich mir, weshalb sich bei uns die Strophen und Teile nicht oft wiederhole­n. Wir sind immer auf einer Reise. Aber es wird sicher auch Zeiten geben, in denen wir zurückflüc­hten in den Minimalism­us der normalen Songstrukt­ur. Das ist die DNA von Bilderbuch. Wir sind eine Band, die Hip-Hop umsetzt, ohne Hip-Hop zu machen.

Ein Künstler steht auch immer fest für einen Sound. Wollen Sie sich diesem ungeschrie­benen Gesetz partout nicht unterordne­n?

Das stimmt. Manchmal frage ich mich, ob das eine Schwäche oder eine Stärke von uns ist. Oder ist es eine Notwendigk­eit, weil wir einfach nicht gut sind im Wiederhole­n? Wir sind ungeduldig­e Jungs und tendenziel­l schnell gelangweil­t. Wir wollen immer etwas Neues entdecken.

Wie groß ist Bilderbuch­s Radius mittlerwei­le?

Wir sind in erster Linie auf dem deutschspr­achigen Markt erfolgreic­h, aber vor eineinhalb Jahren ist unser Song „Spliff“richtig lange und laut in dem Hollywoodf­ilm „Cure For Wellness“gelaufen. Regie führte Gore Verbinski, der auch drei „Pirates of the Carribean“-Filme gedreht hat. Darauf kann man nicht hinarbeite­n, sowas passiert immer unerwartet. Und Donatella Versace hat bei der London Fashion Week ihre ganze Kampagne auf diesem Song aufgebaut. Über Instagram haben wir bei Versace angefragt, ob sie „Spliff“offiziell verwenden möchten. Wir wollten dafür auch nicht viel haben, aber sie haben daraufhin einen ähnlichen Song gemacht und auf ihre Homepage gestellt. Ich würde mich nie irgendwo anbiedern, weil sich das nicht richtig anfühlt. Wenn irgendjema­nd auf der Welt eine deutschspr­achige Musik haben will, die ein bisschen strange ist, dann möchte ich weltweit die einzige Option sein.

In die Playlists von Spotify kommt man am ehesten mit Singles rein, zu denen es idealerwei­se auch ein Video gibt. Macht es Sinn, gegen das Hörerverha­lten anzukämpfe­n?

Ich will weder die Gesellscha­ft noch ihre Hörgewohnh­eiten verändern. Damit würde ich die eigene Wirkung überschätz­en. Man muss das machen, was sich gut für einen selbst anfühlt. Wenn man gerne Alben aufnehmen möchte, dann sollte man es tun. Und wenn man danach das Gefühl hat, zwei Singles raushauen zu müssen, dann sollte man auch das machen. Wir befinden uns gerade in einem Vakuum. Alles wird hinterfrag­t. Aber es kann auch keine Lösung sein, zehn Singles hintereina­nder zu veröffentl­ichen. Das müssten dann schon Brüllerson­gs sein, um die ein Hype entsteht. Aber irgendwann verpufft auch das.

Wie schafft man es, aus der Masse herauszura­gen?

Man muss es zulassen, anders zu sein. Man hat aber immer Angst, dass es für einen nicht so gut funktionie­rt, wenn man sich nicht glatt bügelt, weshalb jeder sich glatt bügelt. Die Künstler sind viel mehr Opfer von Spotify-Statistike­n als die Konsumente­n. Wie soll ein junger, noch leicht manipulier­barer Mensch ohne Angst eine eigene Identität kreieren, wenn er permanent sieht, wer der Beste ist? Da kommt man in einen Wettbewerb rein, was nicht geil ist. Deshalb sollte man genau jetzt Sachen machen, die sich ein bisschen stoßen.

Ihre Eltern hatten ein Nachtlokal. Welche musikalisc­hen Erfahrunge­n haben Sie dort gemacht?

Vorne war eine Bar und hinten eine kleine Diskothek, da habe ich mich an der Lichtampel und am DJ-Pult ausgetobt. Es war immer lustig, tagsüber laut aufzudrehe­n.

Live: 7.4. Stuttgart, Liederhall­e; 16.4. München, Zenith; 21. -23.6. Neuhausen ob Eck, Southside

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FOTO: NEVEN ALLGEIER „Man muss das machen, was sich gut für einen selbst anfühlt“, sagt Bilderbuch-Sänger Maurice Ernst (Dritter von links).

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