Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Die Mahnung von Notre-Dame
Fassungslos saßen Zuschauer auf der ganzen Welt am Montagabend vor ihren Bildschirmen, um Notre-Dame in Flammen aufgehen zu sehen. Nicht nur in Paris, sondern auch in Paderborn oder Palermo hatten die Menschen das Gefühl, einen Familienangehörigen zu verlieren. Doch für die Franzosen ging es dabei um noch viel mehr: Für sie ist die Kathedrale eines der wenigen Symbole, das sie alle eint. Nationalhymne, Flagge, ein paar Persönlichkeiten und Bauwerke. Ganz vorne dran – unabhängig von der Religion – Notre-Dame.
Genau deshalb hielt nach dem Drama die sonst so aufgeheizte Politik still. Sogar der Europawahlkampf wurde ausgesetzt. In dem Augenblick, in dem das weltberühmte Gotteshaus verloren schien, rückte das Land zusammen. Zumindest für einen Moment war die Spaltung aufgehoben, die die Demonstrationen der „Gelbwesten“auf so drastische Weise zum Ausdruck gebracht hatten – alle waren in Trauer vereint.
Frankreich hat zuletzt viel durchgemacht. Den Terror von Straßburg ebenso wie die gewaltsamen Proteste der „Gilets jaunes“. Die Nation schaut mit viel Pessimismus in die Zukunft. Dabei zeigt ausgerechnet das Feuer von Notre-Dame, wie widerstandsfähig das Land ist. Mitten in dem Flammeninferno brach sich noch am Montagabend der Wille zum Wiederaufbau die Bahn. Hunderte Millionen Euro kamen innerhalb weniger Stunden zusammen.
Sicher war es Zufall, dass das mehr als 800 Jahre alte Meisterwerk der Gotik ausgerechnet zu dem Zeitpunkt zu brennen anfing, als der Staatschef eine wegweisende Rede halten sollte. Emmanuel Macron wollte damit den zweiten Teil seiner Amtszeit einläuten. Vom Präsidenten, der spaltet, wollte er zu einem werden, der versöhnt. Und er wollte die Franzosen auffordern, wieder zu einer Nation zusammenzuwachsen. Genau das, was das Inferno auf der Île de la Cité nun vielleicht ja auch bewirkt. Es liegt an den Franzosen, ihre Einheit über den 15. April 2019 hinaus zu retten. Die verkohlten Überreste von Notre-Dame werden ihnen eine tägliche Mahnung sein.